So sehr sich der Filmbetrachter bei diversen Kriminalfilmen wünscht, dass der Täter erwischt und verurteilt wird, so fasziniert ist er gleichzeitig davon, wenn Gefängnisinsassen versuchen, aus einem schwer bewachten Gebäude wieder auszubrechen. Die Bedrohung verkehrt sich ins Gegenteil, wenn der Gefangene plötzlich die Sympathie des Zuschauers geniesst und das Auftreten der Gefängniswärter zur Bedrohung wird. Um diese moralische Hemmschwelle leichter zu überwinden, greift das Drehbuch meist auf unschuldig oder zu hart verurteilte Justizopfer zurück, kombiniert das Ganze noch mit möglichst sadistischen Wärtern und lässt den Zuschauer an die ausgleichende Gerechtigkeit eines gelungenen Ausbruchs glauben (wie z.B. in "Papillon" oder "Flucht aus Alcatraz").
Vielleicht liegt es daran, dass Jacques Beckers Ausbruchfilm "Das Loch" trotz seiner grossartigen Bildsprache und intensiven Schilderung heute kaum noch bekannt ist, denn sein nach einer realen Geschichte entstandener Film vermeidet jegliche Plakativität. Bis auf den ersten Blick über das Pariser Gefängnis "Santé" erzählt der Film seine Story nur aus der Sicht der fünf Insassen einer Zelle. Andere Personen wie Mithäftlinge, Wärter oder der Gefängnisdirektor treten nur auf, wenn sie in unmittelbaren Kontakt zu einem der fünf Protagonisten treten.
Dabei entfaltet der Film seine Sogwirkung ganz langsam, da er nichts schildert, sondern die Charaktere und ihre Verhaltensweisen aus der Interaktion erzählt. Das Gefängnis zeigt sich von gnadenloser Härte, die aber nicht aus dem Verhalten einzelner Personen entspringt, sondern aus den realen Verhältnissen und Regeln, wie sie Anfang der 60er Jahre in einem zivilisierten europäischen Staat Standard waren. In den kleinen Räumen befindet sich eine Toilette und ein Waschbecken, zum Schlafen legt man sich nachts nebeneinander auf Matratzen und es gibt nur einen kleinen Schrank, in dem man persönliche Dinge unterbringen kann. Seitens des Gefängnispersonals wird akribisch auf Hygiene geachtet, ständig kann es Inspizionen der Zelle geben und wenn die Wärter, die hier alle korrekt ihren Dienst tun, nachts durch das Guckloch nach dem Rechten sehen, erwarten sie von jedem Gefangenen ein Lebenszeichen.
Privatheit und Individualität haben hier keinen Raum, weswegen das Zusammenspiel der gemeinsam in der Zelle sitzenden Gefangenen von höchster Bedeutung ist. Gio (Michel Constantin), Manu (Philippe Leroy), Monsegnieur (Raymond Meunier) und Roland (Jean Keraudy) sind alle zu langen Haftstrafen verurteilt und verstehen sich ohne viele Worte. Das ändert sich, als Claude Gaspard (Marc Michel) in ihre Zelle versetzt wird, obwohl diese mit vier Mann schon sehr stark belegt ist. Claude stammt aus bürgerlichen Verhältnissen und ist nur im Gefängnis, weil seine Frau ihn wegen versuchten Mordes angezeigt hat. Tatsächlich verletzte er sie versehentlich bei einem Streit (er hatte sie mit ihrer jüngeren Schwester betrogen), als sie ein Gewehr auf ihn richtete.
Die vier Männer in der Zelle begegnen ihm teils mit Misstrauen, teils freundlich, aber sie müssen ihn schnell in ihre Fluchtpläne einweihen, da sie mit der Umsetzung ihres Fluchtplanes schon begonnen hatten. Da Claude einen freundlichen Eindruck macht und sich sofort bereit zeigt, mitzumachen, setzen sie ihre Arbeit mit ihm fort...
Jacques Beckers letzter Film "Das Loch" entstand zum Zeitpunkt der beginnenden "Nouvelle Vague" und wirkt dagegen beinahe wie ein Anachronismus. In seinem pessimistischen Charakter und den in starkem Schwarz-Weiss-Kontrast gedrehten Bildern erinnert sein Film einerseits an den "Film Noir", andererseits nimmt er in seinem ruhigen, dokumentarischen und wortkargen Stil Melvilles spätere Meisterwerke wie "Vier im roten Kreis" vorweg. Ähnlich wie bei diesem, finden Frauen nur in den Erinnerungen der Männer statt und das einzige Auftreten einer Frau (Claude wird von seiner jungen Geliebten besucht) ist ein Desaster.
Die Einmaligkeit seines Films erschliesst sich durch eine Detailliertheit ,die an Werke wie "Rififi" erinnert, sich aber anders als dort einem Ausbruch widmet. Wenn er die Männer abwechselnd auf den Betonboden einschlagen lässt oder sie den Schacht in die Wand stemmen lässt, hält er minutenlang drauf, so dass man fast körperlich die Kraftanstrengung und die unglaubliche Geduld spürt, die das Vorhaben erfordert. Jede Schraube, Schlüsselfertigungen, Konstruktionen zur Täuschung der Wärter werden in ihrer Entstehung und Anwendung gezeigt und damit das komplexe Zusammenspiel verdeutlicht, dass notwendig ist, um die Flucht glücken zu lassen.
Besonders beeindruckend sind die Blicke der Kamera, wenn diese die Männer dabei verfolgt, wie sie die riesigen Dimensionen des Gefängnisses nach einem Fluchtweg durchforsten. Nur beleuchtet von einer brennenden Kerze, verlieren sich die Suchenden in den unendlich erscheinenden Kellergängen, so dass sie nur noch einen winzigen Lichtpunkt in einer umfassenden Schwärze abgeben. Spätestens wenn die Gefängnisinsassen, über deren früheres Schicksal man nur wenig erfährt, in die dunklen Tiefen des Gefängnisses eintauchen, entfaltet "Das Loch" eine sogartige Wirkung ,die den Betrachter nicht mehr loslässt und ihn mitfiebern lässt, ob die Flucht gelingen wird...
Fazit : Jacques Beckers Film "Das Loch" ist nicht nur eine äusserst genau beobachtende Darstellung eines Gefängnisausbruchs, sondern eine Sozialstudie über fünf Männer, die auf engstem Raum zusammenarbeiten müssen. Ohne viele Worte gelingen ihm dabei nicht nur genaue Charakterzeichnungen, sondern ein komplexes Bild einer menschenverachtenden Justiz, ohne das er auf plakative Muster oder übertriebene Verhaltensweisen zurückgreifen muss.
Die Neutralität ,mit der er fast dokumentarisch diesen wahren Fall schildert, beeindruckt in ihrem pessimistischen Blick auf die menschliche Sozialisation, ohne dabei an erzählerischer Spannung einzubüssen - ein vergessenes Meisterwerk (9,5/10).