Dr. Maria Rohm wird mit einem seltsamen Fall beauftragt: Ein Lastwagen-Fahrer hat einen Mann überfahren und behauptet, zwei fremde Männer hätten den bereits reglosen Körper vor seinem LKW auf die Straße gelegt. Aufgrund entlastender Indizien wird der Mann kurz darauf freigelassen. In Maria nagen jedoch Zweifel: Offenbar kannte ihr Mann Günther (Peter van Eyck), ein Architekt, den Toten. Verwirrt darüber, dass Günther ihr dies bewusst verschwieg, ermittelt sie in Eigeninitiative weiter – was ihrer Beziehung zu Günther nicht gut tut…
Dem Vernehmen nach war „Ein Alibi zerbricht“ 1963 kein großer Kassenerfolg. Trotz einer Starbesetzung mit Ruth Leuwerik, Peter Van Eyck, Charles Regnier und Sieghard Rupp sowie unter der Regie von Edgar Wallace-Routinier Alfred Vohrer und vertont von Deutschlands Filmmusik-Avantgardist Peter Thomas, fand und findet der Film nur wenig Beachtung und ist inzwischen beinahe in Vergessenheit geraten. Dass Alfred Vohrer, in den 60ziger Jahren immerhin einer der produktivsten und erfolgreichsten Kommerzfilmer überhaupt, hiermit einen seiner anspruchsvollsten und modernsten Filme gedreht hat, auch. Letztlich sind die beiden interessantesten Werke des Regisseurs, zumindest aus dieser Dekade, beide „Seitensprünge“: Für „Ein Alibi zerbricht“ arbeitete er, zwischen diversen (Edgar Wallace-)Produktionen der Rialto-Film von Horst Wendlandt, für eine kleinere, sonst eher auf seichte Familienfilme spezialisierte Firma, für das sechs Jahre später entstandene, denkwürdige Jugendkriminaldrama „Sieben Tage Frist“ wechselte er zu Luggi Waldleitners Roxy Film – wo er anschließend auch blieb und eine zweite Karriere als Spezialist für Johannes Simmel-Verfilmungen hinlegte. Gleichsam mit ihm befreit aus dem beengenden Korsett biederer Konfektionsware, war mit „Ein Alibi zerbricht“ auch Herbert Reinecker, jener fleißige Schreiberling, der heute zurecht als einer der profiliertesten und vielseitigsten Drehbuchautoren im deutschen Nachkriegskino gilt und – ungeachtet der Tatsache, dass Reinecker, wie so viele andere begabte Filmschaffende in den 70zigern, eher notgedrungen zum Fernsehen überlief – stets als geistiger Vater von „Derrick“ aufgeführt wird. Beide, Vohrer und Reinecker, sollten später noch mehrmals aufeinander treffen. Nicht immer kamen dabei Resultate zustande, die an die Größe des hier vorliegenden und für beide in gleichem Maße ungewöhnlichen Werks heranreichten.
„Ein Alibi zerbricht“ operiert auf mehreren Ebenen und in mehreren Genres, teils in klassisch-ambivalenter Hitchcock-Manier, teils als gesellschaftskritischer und thesenhaft strukturierter Diskurs, als Ehedrama und nicht zuletzt als klassischer Genre-Film. Und doch ist er äußerlich, in seinem Aufbau und seiner Anlage, kaum von den damals üblichen deutschen Kriminalfilmen zu unterscheiden. Die Ambition, mit den Grenzen des Genres Kriminalfilm zu brechen, hält sich anfangs unauffällig im Hintergrund, um nach der „kriminalistischen“ Exposition radikal hervorzubrechen – ganz genau wie in „Sieben Tage Frist“, Vohrers anderem großen Streich außerhalb der Wallace-Serie, der erstaunlich viel mit diesem Film gemein hat. Es geht letztlich nicht um Recht und Gerechtigkeit. Denn ihren Mandanten, den LKW-Fahrer Siebeck, hat Maria Rohm (Ruth Leuwerik) schnell aus seiner prekären Lage befreit. Zwei unbekannte Männer haben ihm einen leblosen Mann vor sein Fahrzeug geworfen, er selbst war angetrunken und folglich für den Staatsanwalt wenig glaubhaft. Was wir als Zuschauer schon wissen, glaubt ihm Maria als Einzige – und findet bald die notwendigen Indizien für Siebecks Unschuld.
Der Frieden wäre also wieder hergestellt, der LKW-Fahrer zurück im Kreise seiner Familie, der vermeintliche Unfall als Mord und damit jenseits von Marias Fachgebiet abgestellt, die Beziehung zwischen ihr und ihrem gegenüber den menschlichen Konflikten, mit denen sie ihn häufig konfrontiert, relativ unsensiblen Mann Günther (Peter van Eyck) wieder harmonisch. Doch als sie durch Zufall einen Zusammenhang zwischen dem Toten namens Kessler und ihrem Mann herstellen kann, erwacht ihr Misstrauen.
„Verdacht“ und „Rebecca“ von Hitchcock kommen einem in den Sinn, aber auch Billy Wilders „Zeugin der Anklage“ sowie manche Romane von Agatha Christie. Größen des Sujets also. Doch Reinecker scheint an keine dieser möglichen Inspirationsquellen viele Gedanken verschwendet zu haben. Er passt seine Kriminalgeschichte dem Deutschland des Jahres 1963 an, seinen Umtrieben, seinen Sorgen und seinen Veränderungen. Die kriminalistische Dimension seines spannungsreichen Plots reizen er und Vohrer mit seiner charakteristischen, direkten und kühlen Inszenierungsweise zur Gänze aus, ebenso aber auch die soziokulturellen Dimensionen, die Reinecker zur Verfügung stellt und die Vohrer bereitwillig und zustimmend weiterspinnt.
Ruth Leuwerik verkörpert hervorragend einen sehr liberalen Frauentyp, der sich durch eine ausgeglichene Kombination von burschikos-bestimmtem Auftreten und ausgesprochen weiblicher Güte einer Einordnung in eine der wenigen, damals im deutschen Kino – und beispielsweise auch in den Wallace-Filmen – verbreiteten, schwarzweißen Frauenrollen widerstehen kann. Sie trifft (beruflich) auf einen Mann aus dem Proletariat, der sie zwar nicht durch besondere Bildung oder Schlagfertigkeit, dafür aber seine instinktive Ehrlichkeit beeindruckt. Eine Ehrlichkeit, die ihrem eigenen gesellschaftlichen Umgang fehlt. Ihr Mann Günther (Peter Van Eyck) scheint großen Wert darauf zu legen, ihre Ehe über ein gewisses Maß an Vertrautheit nicht hinausgehen zu lassen und initiiert für beide einen leicht dekadenten Lebensstil, in dem er von der Realität des Alltags nichts spüren will. Als die Frau von Siebeck bei ihnen im Haus auftaucht, macht er seinem Ärger darüber lautstark Luft. Die Freunde und Kollegen Günthers wiederum (unter ihnen eine blutjunge Hannelore Elsner!), die mehr oder weniger die einzigen außerberuflichen sozialen Kontakte von Maria darzustellen scheinen, teilen alle negativen und guten Seiten ihre Mannes und werden von ihr auch mit dem dementsprechenden Respekt behandelt.
Reinecker und Vohrer stoßen immer dann gegen die Gewohnheiten des Zuschauers von heute an, wenn sie aus dem kriminalistischen Eifer, mit dem Maria auch nach der Entlassung ihres Mandanten weiter recherchiert, nicht nur die bröckelnde Fassade einer Ehe, sondern schließlich auch der gesamten Bundesrepublik machen. Materialismus bis zum Egoismus – was erst nach der Hochzeit des deutschen Wirtschaftswunders und inmitten der politischen Unruhen der späten 60ziger häufiger im deutschen Kino thematisiert wurde (man denke beispielsweise an Rainer Werner Fassbinders beinahe konsequente und weitgehend berechtigte Ignoranz der 68ziger), tritt hier wie eine düstere Vorahnung ans filmische Licht. Für Maria enden die „Jahre des Wohlstands“ in tödlicher Gefahr, ausgehend von eben jener Dekadenz, in der sie lebt. Der Tote vor dem Lkw ist – das stellt sich in der dramatischen Enthüllung heraus – ebenso ein Opfer der großen Nachkriegsutopie wie auch Marias Ehe indirekt wegen ihr in die Brüche geht.
Dieses auf seine Grundfesten destillierte Ehedrama spielt sich in nackter Offenheit, inszeniert mit dem voyeuristischen Verlangen, seine Mechanismen aufzuzeigen, vor den Augen des Zuschauers ab. In einer Schlüsselszene des Films verliert Peter angesichts der Verdächtigungen seiner Frau die Fassung:
„Du gehst von einer falschen Vorraussetzung aus, Maria. Du glaubst, dass das was du tust, mich interessiert. Das stimmt nicht!“
Die (teilweise unfreiwillige) Emanzipation eines jeden Einzelnen dank einer neuen, an Solidaritätsmangel leidenden Gesellschaftsform, die sich immer weiter durchsetzt, fordert Opfer. Und das in jeder Hinsicht. Die Gleichgültigkeit ihres versnobten Mannes wird zu einem Monster und der Kampf mit ihm scheint für Maria kein glückliches Ende zu nehmen – als sie ihn auf der Baustelle besucht, wird er von einem Kran in einem Metallkäfig von dem Dach eines riesigen Rohbaus zu ihr heruntergelassen, schwebt vor „seiner“ monumentalen Schöpfung zu ihr herab. „Ein Alibi zerbricht“ hat unzählige solcher Momente und vermutlich lässt gerade seine unauffällige, akzentuierte Bildsprache und die Szenenweise an den Film noir angelehnte Schwarzweißfotographie ihn auch heute noch modern und zeitlos erscheinen. Und seine Thematik an sich besitzt nach wie vor unverminderte Gültigkeit.
Alfred Vohrer war zwar immer ein Mann versteckter Anspielungen und aussagekräftiger Details in den hinteren Winkeln seiner Bilder, sein psychologisches Feingespür hielt sich jedoch meist in Grenzen. Obwohl der Film somit – wie eingangs erwähnt – gelegentlich trockene, thesenhafte Züge anzunehmen droht, ist dieses Markenzeichen Vohrers hier von Gewinn und führt zu einem weiteren interessanten Aspekt am Rande: Wie inszeniert ein homosexueller Regisseur das Aufbrechen einer heterosexuellen Beziehung? Auch wenn die Antwort auf diese Frage freilich eher eine notwendige Begleiterscheinung der Produktion ist:
Dieser Blick an einem nur halb nachvollziehbaren Vorgang vorbei, durch das Gitter einer gesellschaftlichen Befindlichkeit hindurch auf eine kriminalistisch-melodramatische Geschichte – dieser Blick ist schon ein Kuriosum für sich und ebenso faszinierend wie bizarr. Im Gegensatz zu Vohrers Edgar Wallace- und Karl May-Filmen hat „Ein Alibi zerbricht“ neben charmant-origineller Unterhaltung als düsterer, spannender Krimi auch bei einer zweiten Sichtung noch eine bereichernde und nachhaltige Wirkung. Er ist vielleicht einer der bemerkenswertesten deutschen Filme der frühen 60ziger Jahre und lohnt zweifellos eine Wiederentdeckung. Mir ist bisher übrigens auch noch kein Film untergekommen, in dem die Toccata D-Moll von Bach so pointiert und wirkungsvoll eingesetzt wird – hier ist Gänsehaut Szenenweise garantiert. Die Eröffnungssequenz, Siebecks schicksalhafte nächtliche Fahrt und sein Unfall, ist nicht zuletzt deshalb einer jener verstörenden und schönen Kino-Momente, die man nicht mehr vergisst.