Das italienische Genre-Kino war einst immer für eine Überraschung gut. Ganz besonders in der unglaublichen Schwemme der Gialli in der ersten und der bluttriefenden Welle schundiger, aber aufrichtiger Exploitation in der zweiten Hälfte der uneingeschränkten Siebziger finden sich neben billig und schnell gefertigter Konfektionsware auch obskure Unikate deren Menge sich zu einem Bild der italienischen Filmindustrie verdichtet auf das sie wahrlich stolz sein kann: Damals- in diesem filmhistorisch unterschätzten Jahrzehnt- nicht nur eine der produktivsten sondern auch vielseitigsten und wagemutigsten Adressen für Horror/Thriller und Action gewesen zu sein.
Mit nur einigen wenigen Werken kündete Luigi Bazzoni sich damals als hoffnungsvolles Regietalent an. Das Potential, ein anspruchsvoller, qualitativ stetig wachsender Unterhaltungsfilmer und damit einer der Großen des Gewerbes neben Enzo G. Castellari und Sergio Martino zu werden hatte er offensichtlich. Aus welchen Gründen auch immer er aber schon nach fünf abendfüllenden Werken wieder von der Bildfläche verschwand- an der Qualität seines letzten Kinofilms „Le Orme“ kann es nicht gelegen haben.
Bazzoni, der mit dem todschicken Edel-Giallo „Giornata nera per l’ariete“ ein Jahr zuvor bereits einen Achtungserfolg für sich verbuchen konnte, heftet sich hier ehrgeizig an die Fersen der zuvor entstandenen Horror-Kassenschlager „Rosemarys Baby“ und „Wenn die Gondeln Trauer tragen“- nicht mit seinem Drehbuch sondern primär der eher dramatischen, subjektiv auf einen einzelnen Charakter zugeschnittenen Erzählweise. Dieser Charakter ist hier die Dolmetscherin Alice (Florinda Bolkan, „Lizard in a woman’s skin“, „Verflucht zum Töten“) die in bester Hitchcock-Manier erkennen muss, das in sich in einigen aus ihrer Erinnerung entschwundenen Tagen etwas Ungeheuerliches zugetragen haben muss. Einzige Anhaltspunkte sind ein ihr völlig unbekanntes Kleid in ihrem Schrank und eine zerrissene Postkarte die ein Hotel in der türkischen Stadt Garma zeigt. Darüber hinaus wird sie von unheimlichen Träumen geplagt, in denen ein Astronaut von der Besatzung eines Raumschiffs auf dem Mond zurückgelassen wird. Nach einigem Hadern beschließt Alice, ihrer Amnesie selbst auf den Grund zu gehen und reist nach Garma. Dort scheint sie jeder zu kennen…
Die Dramaturgie ist die des postmodernen, psychologischen Horrorfilms, das Sujet wie aus der Feder des Größten: Alfred Hitchcock. Dennoch bewahrt sich „Le Orme“ durch einige bizarre Blüten und seine stilistische eigenwillige, typisch italienische Machart (die sich freilich nur anhand gewisser Vorkenntnisse als solche ausmachen lässt) eine Eigenständigkeit als äußerst beunruhigendes, undurchsichtiges Psychodrama das einen schwer definierbaren Sog entwickelt der sich am ehesten mit dem der oben genannten, bekannten Klassiker vergleichen lässt. Nur das der Aufhänger in „Le Orme“ ein ganz anderer ist. Während etwa Nicholas Roegs großartiger „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ die Aufarbeitung einer selbst suggerierten Schuld behandelt ist das Leitmotiv bei Bazzoni die Einsamkeit von Alice. Das Ziel, die offenbar schrecklichen Ereignisse innerhalb der kurzen, „übersprungenen“ Zeitspanne zu rekonstruieren gibt Alice einen neuen Aufwind, füllt ihre innere Leere. Ein Vergleich mit dem von David Hemmings in Michelangelo Antonionis „Blow up“ verkörperten Fotographen Thomas kommt einem in den Sinn. Nur will Bazzoni im Gegensatz zu seinem Landsmann Antonioni diese Basis nicht für einen gesellschaftskritischen, humanistischen Diskurs nutzen sondern den Zuschauer aufwühlen, ihm Kopfzerbrechen bereiten und zu guter letzt mit einer fiesen Schlusspointe das Fell über die Ohren ziehen. Anders als in dem eher dezenten „Giornata nera per l’ariete“ verfehlt er in „Le Orme“ die angestrebte, suggestive Wirkung nicht.
Das Thema der verlorenen Identität eines verlorenen Menschen wird in „Le Orme“ um eine interessante Variante bereichert: Alice wird von den Bewohnern des Hotels in Garma als Nicole identifiziert. Deren äußere Merkmale sollen allerdings im Gegensatz zu der toughen, kurzhaarigen Alice lange, rote Haare und ein durchaus feminines Wesen gewesen sein. Langsam beginnt Alice, sich der „Fügung“ scheinbar zu ergeben. Als der ortsansässige Friseur sie jedoch mittels Make up und einer roten Perücke, die sie selbst am Strand gefunden hat (und die vermutlich Eigentum von Nicole war), zur Nicole umgestaltet, reißt Alice sich in einem panischen Anfall die Perücke vom Kopf und verlässt fluchtartig den Salon, lässt gleichsam die Identität der Fremden hinter sich. Auch die Hinweise, die ihr Paola (Nicolette Elmi, Italiens rothaariges Dämonenkind Nr. 1) gibt, ein kleines Mädchen das sie am Strand trifft, entsetzen sie zunehmend mehr. Auch Paola ist sich nicht sicher ob Alice und Nicole ein und dieselbe Person sind. Erst als ein gewisser Harry ins Spiel kommt, lichtet sich der Nebel. Er ist Alices ehemaliger Geliebter, ebenso der von Nicole…
Mit den ersten beiden Etappen seines raffinierten Verwirrspiels weckt Bazzoni entsprechend hohe Erwartungen an dessen Auflösung. Beinahe ist man enttäuscht von der Schlichtheit der finalen Erklärung obgleich sie den düsteren Film angemessen ausklingen lässt. Auch bleibt Bazzoni- eher ein Novum im eloquenten Giallo-Genre dem man „Le Orme“ im weitesten Sinne zuordnen kann- dem Zuschauer einige Erklärungen schuldig, allen voran die immer wiederkehrenden Alpträume von Alice sind ein (zweifelsohne faszinierendes) Rätsel. Dabei sind sie besonders verstörend inszeniert und lassen- bei zweimaligem Sehen- die tiefsten Einblicke in die disharmonische Seele der Protagonistin zu. Interessant sind diese Sequenzen auch durch die Mitwirkung von Klaus Kinski, der dort als Leiter eines Forscher-Teams in einem Raumschiff auftritt, das ein Mitglied seiner Besatzung auf dem Mond zurücklässt- wo es stirbt. Wer dieser Mann war- vielleicht Harry? Das erfahren wir nicht, doch als Allegorie von Alices Innenleben, das zunehmend schizophrene Züge annimmt, sind diese überaus eindrucksvollen Bilder, die eine morbide Ruhe ausstrahlen durchaus nützliche Hinweise, anhand derer man dem beinahe durchgängig unvorhersehbaren Film möglicherweise früher auf die Schliche kommt.
Nach „Le Orme“ bedauert man einmal mehr das frühe Ende von Luigi Bazzonis Karriere als Regisseur. Sein Gespür für den plötzlichen Spannungsmoment, subtilen Terror und gewissenhaften, zyklischen Szenenaufbau wäre sicherlich noch zahlreichen weiteren Filmen zugute gekommen. Auch die erneute, dritte Zusammenarbeit mit dem Oscarprämierten Kameramann Vittorio Storaro („Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe“, „Exorcist: The Beginning“) erweist sich als Glücksgriff; „Le Orme“ legt dem Zuschauer wie so viele andere italienische Thriller dieser Zeit virtuose fotografische Leistungen und einen damit harmonisierenden Score zu Füßen. Auch die kleine, fast schon familiäre Darstellerriege leistet ihren Beitrag zum Gelingen des Filmes ab der wie schon erwähnt vor allem auch von der inneren Spannung der Dialoge und der Protagonistin Alice selbst lebt. Für Liebhaber des mediterranen Horror/Mystery-Thrillers ist Luigi Bazzonis atmosphärisches, finales Werk „Le Orme- Spuren auf dem Mond“ ein lohnender Geheimtipp, der hoffentlich auch bald seinen Weg auf eine DVD finden wird.