Wer hätte gedacht, dass in David Cronenberg, dem Schöpfer solcher Alptraumvisionen wie „Videodrome“ (1983) und „Naked Lunch“ (1991), tief im Verborgenen ein (filmischer) Familienmensch zu schlummern scheint? Diesen nicht gerade unberechtigten Eindruck erhält man als Zuschauer nach Sichtung seines aktuellen Thrillers „Tödliche Versprechen“, welcher nach „A History of Violence“ (2005) bereits zum zweiten Mal familiäre Strukturen im Kontext einer lebensfeindlichen Umwelt untersucht. Verbindendes Element in beiden Werken ist der Schauspieler Viggo Mortensen, der sich mit „Tödliche Versprechen“ anschickt, die Performance seines Lebens hinzulegen.
Die minderjährige Russin Tatiana stirbt während der Geburt ihres Kindes in einem Londoner Krankenhaus. Auf der Suche nach Angehörigen des Neugeborenen stößt Anna auf das in russisch verfasste Tagebuch der jüngst Verstorbenen, welches sie auf die Spur von Restaurantbesitzer Semyon, seinem Sohn Kirill und dem charismatischen Chauffeur Nikolai führt. Erst allmählich beginnt Anna zu realisieren, dass hinter der freundlichen Fassade von Semyon ein Mitglied der Russenmafia steckt, das weitaus mehr mit Tatiana verbindet, als auf den ersten Blick ersichtlich…
David Cronenberg beginnt „Tödliche Versprechen“ mit einem lauten Knall, einem expliziten Gewaltausbruch, welcher dem Zuschauer vollkommen überraschend einen heftigen Schlag zwischen die Augen versetzt. Ohne ihm zunächst ein Mindestmaß an Orientierung zu gönnen, schlingt Cronenberg seine filmischen Fesseln erbarmungslos um Arme und Beine des Publikums, zurrt ihn fest am Sitz und bietet einen kleinen Einblick in die folgenden 100 Minuten. Dem Publikum bleibt keine Wahl, als sich der cineastischen Übermacht Cronenberg hinzugeben. Und man tut es ja auch nicht ohne Vergnügen.
Seit „A History of Violence“ lässt das äußerst komplexe Themengebiet „Familie in Extremsituationen“ Cronenberg anscheinend nicht mehr so richtig los. Anno 2005 sah sich eine Familie unmittelbar mit der gewalttätigen, kriminellen Vergangenheit des Vaters Tom Stall (Viggo Mortensen) konfrontiert. Zwei Jahre später, beinahe als thematische Fortsetzung kategorisierbar, verschlägt es Cronenberg in die Gefilde der Londoner Russenmafia, der „Vory V Zakone“- ein Sujet, das bereits auf den ersten Blick viel Raum für „Familie“ bietet. So funktioniert der Film auf drei familiären Ebenen, die sich gleichzeitig gegenseitig durchdringen und bedingen. Und hier steckt der Teufel im Detail, denn oftmals werden die wichtigsten Informationen nur am Rand preisgegeben, sodass Zuschauer nicht selten dazu neigen, sie zu übersehen. So etwa in Bezug auf Anna und ihre Familie. Nur aus Gesprächsfetzen erfährt man, dass sie nach einer Fehlgeburt offensichtlich von ihrem Mann/ Freund verlassen wurde. Den Ursprung ihrer halsstarrigen und oftmals naiv anmutenden Versuche, mehr über das Kind auf ihrer Krankenstation in Erfahrung zu bringen, ihm ein behütetes Heim im Schoß einer Familie zu ermöglichen, behandelt Cronenberg scheinbar beiläufig, obwohl diese Aspekte essentiell zum Verständnis von Annas Handeln respektive des gesamten Films beitragen. Aus einer disfunktionalen Familie resultiert hier der Stein des Anstoßes, welcher die Geschichte in Lauf setzt. Ähnlich gestaltet sich die Charakterisierung der zweiten Familienebene, die Semyon, seinen Sohn Kirill und den Chauffeur Nikolai umfasst. Disfunktionalität bestimmt auch hier weitestgehend das Bild. Kirill- hitzköpfig, brutal und unbedacht- ist für seinen Vater gelinde gesagt eine Enttäuschung. Dem gegenüber steht dessen „Chauffeur“ (oder besser Bodyguard, Schläger und Leichenbeseitiger) Nikolai, welcher sich mit seiner Kirill so gegensätzlichen Handlungsweise Respekt und Anerkennung des Vaters verdient und durchaus die Funktion eines Ersatzsohnes einnimmt. Die dritte und letzte Familie erscheint in einem weit abstrakteren Gewand, nämlich in Form der Russenmafia an sich- einer familienähnlichen Gemeinschaft, deren Funktionen wie Schutz und Sicherheit sich oftmals überlagern. Alle drei verurteilt Cronenberg- zumindest in ihrer klassischen Form- zum Untergang bzw. kennzeichnet sie als nicht funktionstüchtig in einer derart feindseligen Umgebung. Einzig und allein bei Anna und ihrem adoptierten Baby- final als moderne Patchworkfamilie ohne Vater präsentiert- zeigt Cronenberg sich gnädig. Semyon und sein Sohn Kirill respektive ein Teil der Russenmafia hingegen stehen am Anfang vom Ende, auch wenn „Tödliche Versprechen“ diesbezüglich auf eine offene Erzählform zurückgreift und nicht alle Handlungsfäden, die im Verlauf der Geschichte aufgeworfen werden, am Ende zusammen- bzw. zu einer unmittelbaren Lösung führt.
„Tödliche Versprechen“ beschreibt eine Gratwanderung, die sich gekonnt zwischen den erwähnten tieferen Deutungsmöglichkeiten und zugleich ansprechendem Energiekino hin- und herschlängelt. Dabei funktioniert das Werk ähnlich wie bereits „A History of Violence“, welcher sich ebenfalls nicht durch eine vordergründig sonderlich innovativen Geschichte auszeichnet. Vielmehr bezieht der Film seine Energie aus der Art und Weise, wie er die Dinge präsentiert bzw. aus den Figuren, die ihr Leben in ihm fristen. Ein Musterexemplar diesbezüglich findet sich in Viggo Mortensens Figur Nikolai, welcher die meiste Zeit des Films dazu verdammt ist, eine Sonnenbrille zu tragen, da ihm wahrscheinlich sonst die pure Energie aus den Augen fließen würde. Schon nach kurzer Spielzeit beginnt der Zuschauer eine äußerst starke, ambivalente Beziehung zu ihm aufzubauen, die auf einer eigentümlichen Anziehungskraft, einem geradezu starrköpfigen Überlebenswillen des Protagonisten beruht. Eine Schlüsselszene ist diesbezüglich sicherlich Nikolais nackt ausgetragener Kampf im russischen Dampfbad. Ein Sinnbild der Ungeschütztheit und Arglosigkeit, welches seinen Überlebenswillen in einer unwirtlichen, rauen Welt nochmals deutlich- mit blutiger Feder- unterstreicht. Als Zuschauer weiß man, dass er faktisch auf der „falschen Seite“ und zugleich irgendwie über allem steht. Durch einen erzählerischen Kniff wird Nikolai gegen Ende leider ein Stück weit dieser Aura beraubt und die Geschichte zumindest über eine Teilstrecke auf konventionellere Pfade zurückgeführt, was „Tödliche Versprechen“ aber nur in kleinerem Umfang schadet.
David Cronenbergs „Tödliche Versprechen“ zeigt eindrucksvoll wie nah Leben und Sterben, Geburt und Tod beieinander liegen können. Dabei bedient er sich teilweise konventioneller Thrillerinhalte, die hier jedoch zu keinem Zeitpunkt die erste Geige spielen. Vielmehr faszinieren die kühlen Bilder, die rohe Energie und die Vielschichtigkeit des Werks, die genügend Raum für interessante Interpretationsansätze fernab der Oberfläche bieten.