Ist man ein etwas kurzsichtiger Cineast, so könnte man den britischen Film der letzten Dekaden auf ein zwischen zwei Extremen schwingendes Pendel reduzieren. Auf der einen Seite stehen verführerische Merchant/Ivory-Klone, deren Starensembles sich mit teuren Kostümen schmücken und vor atemberaubenden Landschaften neckisch die Worte von Austen, Dickens oder Wilde flüstern, während sich der Zuschauer wundert, ob auch die Schafe im Hintergrund Mitglieder der Royal Shakespeare Company sind. Das andere Extrem wird gern mit „gritty realism" umschrieben und zeichnet sich durch die ungeschönte Analyse brutaler Charaktere mit brutalen Dialekten in brutalen sozialen Schichten aus.
Wie bereits angedeutet, würde nur ein äußerst sehbehinderter Kinogänger solch eine Simplifizierung akzeptieren, doch für die an dieser Stelle in Kürze erfolgende Einordnung von Hallam Foe soll sie genügen (und ja, die Verf. trägt eine Brille!).
David Mackenzies vierter Spielfilm ist verdammt weit entfernt von besagten wortschwangeren Kostümfilmen (trotz der früheren Wirkens von Ciarán Hinds in der RSC), doch sprüht er wider aller Erwartungen auch nicht gerade vor Realismus, auch wenn er wohl einem Film wie Naked näher steht als etwa Sense and Sensibility.
Die Geschichte des Teenagers Hallam Foe (Jamie Bell), der weder den mysteriösen Tod seiner Mutter, noch die Wiederverheiratung seines Vaters (Ciarán Hinds) verkraftet hat und sich als Folge in einen sympathischen Voyeurismus flüchtet, verlangt geradezu nach einer erbarmungslosen Entblößung der Charaktere und ihrer Motivationen.
Mackenzie (Young Adam) sah das ganz offensichtlich anders und erschwert uns Zuschauern in der ersten Hälfte des Films das Verständnis für Hallams Innen- und Außenleben. Der Film nähert sich Hallam genauso an, wie dieser seine Umwelt wahrnimmt: mit Distanz. Hallam beobachtet von seinem Baumhaus aus die Welt durch sein Fernglas und ist nicht einmal dazu in der Lage, sich von seiner Schwester zu verabschieden, als diese für längere Zeit die Familie verlässt. Als der Konflikt mit seiner verhassten Stiefmutter (Claire Forlani) zu eskalieren droht, flieht er nach Edinburgh und setzt dort seine voyeuristischen Freizeitaktivitäten fort. Hallams obsessive Fixierung auf seine geliebte Mutter erhält neue Nahrung, als er Kate trifft, die seiner verstorbenen Erzeugerin zum Verwechseln ähnlich sieht.
Als Hallam Edinburgh erreicht, über Dächer springt und in fremde Schlafzimmer hineinlugt, gewinnt der Film mit ihm an Fahrt und wird zu unserem Glück zunehmend unrealistisch, ja geradezu halluzinatorisch, als hätte Mackenzie zu viele Filme von Neil Jordan oder Jean-Pierre Jeunet gesehen.
Unterstützt von der eigenwilligen Kameraarbeit von Giles Nuttgens, die uns mit ihrem Handkameraappeal und extremen Detailaufnahmen in die Position des Voyeurs versetzt, haucht Mackenzie seinem Film nun endlich etwas Wärme und Humor ein, so dass eine Identifikation mit Hallam tatsächlich möglich wird. Jamie Bell trägt den symbolträchtigen und Freud-freundlichen Plot als Hauptdarsteller bravourös. Sein Hallam ist ein angry young man erster Güte, in seiner Obsession erinnert er fast schon an James Stewarts Scottie aus Vertigo.
Hallam Foe ist jedoch kein Thriller, auch wenn Mackenzie diese Richtung mehr als einmal andeutet. Hallam verdächtigt zwar seine Stiefmutter des Mordes an seiner Mutter, doch ist dies nur Teil der möglichen Überwindung des Verlustes, d.h. des Heranreifens zum Erwachsenen.
Auch wenn es einige Zeit dauert, bis das dem Zuschauer aufgeht und die Verwirrung um Hallams Charakter abnimmt, bietet diese ungewöhnliche, märchenartige Coming of Age-Story erheiternde, gar erfrischende Dialoge, gut besetzte Nebenrollen, einen charismatischen Hauptdarsteller und eine z.T. herausfordernde visuelle Umsetzung, die weder im gängigen Kostümfilm, noch in filmischen Studien der Arbeiterklasse zu finden ist und ein deutliches Zeichen für die Vielfalt des modernen britischen Filmes setzt.
Kate: I like creepy guys!