Betrachtet man Kiyoshi Kurosawas neuen Film „Sakebi“ kommt einem die Geschichte des italienischen Regisseurs Giulio Questi in den Sinn. Dieser setzte sich anno 1967 in den Kopf, einen zynisch angehauchten, zugleich aber primär linkspolitischen und gesellschaftskritischen Film zu drehen. Doch die italienischen Produzenten waren an seinen Treatments nicht interessiert. Einen Italowestern würden sie ihm allerdings jederzeit finanzieren. Mit vermutlich diebischer Schadenfreude drehte Questi ihnen einen wilden, gewalttätigen Genre-Cocktail („Töte, Django“), voll von religiösen und sozialkritischen Metaphern der so ganz und gar nicht dem entsprach, was sich die Produzenten erhofft hatten. Kiyoshi Kurosawa hatte nach Kassenerfolgen wie „Pulse“ und „Cure“ sicherlich keine derartigen Hürden zu überwinden, dennoch verfährt er ähnlich um sich sein Publikum zu ködern. Geht man von der Inhaltsangabe aus, müsste „Sakebi“ ein typischer, japanischer Geisterhorrorfilm sein. Besieht man das fertige Werk, wird man Zeuge einer Filmerfahrung, die zwar aussieht wie ein solches Konfektionsprodukt, sich aber anfühlt wie der bedächtige Bau einer Hängebrücke zwischen Autorenfilm und sarkastischer Reflexion über das Geisterhorror-Subgenre.
Isolation einzelner Menschen in einer Großstadt wie Tokyo, Konfrontation mit und Überwindung der eigenen Vergangenheit und all ihrer unbequemen Seiten, gegenseitiges (Nicht-)Vertrauen und Entfremdung, Zweifel am Sinn der eigenen Existenz, Realitätsverlust durch Angst und Selbstzweifel, Sozialdrama, melancholisches Großstadtgedicht und schlussendlich radikal umgekrempelte Klischees des japanischen Geisterhorrors – aus diesen verschiedenfarbigen wenngleich auch ähnlich getönten Wollfäden strickt Kurosawa für den Liebhaber suggestiver Seelen-Trips, die die Grenzen zwischen Genre– und Autorenkino vergessen lassen, einen etwas kratzigen aber sehr warmen Pullover den man sicherlich erst eintragen muss, um seine Vorzüge schätzen zu lernen.
Die Beharrlichkeit, mit der Kurosawa auf dem ausgiebigen Gebrauch subgenretypischer Situationen besteht und sie doch niemals den bestehenden, ungeschriebenen Konventionen entsprechend umsetzt, ist neben der komplexen Erzählstruktur und der überragenden Kameraarbeit die modischen MTV-Schnickschnack zugunsten einer natürlichen Optik vermeidet, das vielleicht Beachtlichste an „Sakebi“. Auch hier taucht immer wieder wie aus dem Nichts ein weiblicher, schwarz– und langhaariger Geist auf, um den Protagonisten Yoshioka seelisch und psychisch zu zermürben. Doch dieser Geist ist nicht schreckliche Todesgegenwart sondern suspekte Gesellschaft, er tritt ohne dröhnenden Krachen auf der Tonspur und Schnittgewitter auf sondern erscheint leise und unmerklich im Bild, wie ein schüchterner Besucher, der es nicht wagt, seinen Gastgeber aus seiner meditativen Ruhe zu reißen. Meditative Ruhe – ein Zustand, der „Sakebi“ über weite Strecken beherrscht und dem Kurosawa die Bedeutung beimisst, die ein anderer Regisseur aller Wahrscheinlichkeit nach nahe liegenden, sicheren sphärischen Dielen wie Schaueratmosphäre und Effekten hätte zukommen lassen. „Sakebi“ ist kein Horrorfilm sondern ein Drama. Ein ungemein vielschichtiges Drama, das erst nach der Sichtung seinen tragischen Markstein an die Erdoberfläche trägt: Seine dramaturgische Willkür und sein verschenktes Potential, vielleicht auch sein Übereifer. Kurosawa operiert auf zahllosen narrativen und philosophischen Ebenen und Unterebenen, um dabei doch nur die wenigsten ein zweites Mal aufzusuchen und eingehender zu inspizieren. Die oben aufgezählten Themenpunkte sind sämtlich eng miteinander verwandt, haben in Verbindung mit dem populären Sujet sicherlich einen ungemein reizvollen Klang – und dennoch hätte man sie auch bequem auf drei verschiedene Filme aufteilen und dort ausführlicher verarbeiten können. So wirkt „Sakebi“ überladen und unkonzentriert. Großartige, packende Ideen und Gedankenspiralen schwirren unvollendet, geister- und schemenhaft durch die Luft, nur die wenigsten bleiben an den glatten Wänden des an und für sich linearen Drehbuchs haften und werden ausgeformt. Kurosawa begegnet seinem Protagonisten Yoshioka, sympathisch und charismatisch verkörpert von Kôji Yakusho, großen Respekt entgegen und man spürt seinen Willen, eine Figur zu kreieren, der gerecht zu werden keine einfache Aufgabe ist – weil sie ebenso schwierig wie pragmatisch agiert. Und neben visionären, allegorisch und symbolisch aufgeladenen Sequenzen stehen andauernde Wiederholungen beinahe identischer Szenen – insbesondere hervorzuheben die „Hausbesuche“ des weiblichen Geistes, der in blutrotem Kleid durchs Fenster hereinschwebt – die zwar stets variiert werden und sicherlich Barometer für die Entwicklung des Protagonisten sein sollten, im Verlauf der Handlung jedoch zunehmend ermüdend wirken zumal der Strom reicher und vieldeutiger Sequenzen bis zu der großartigen Schlusssequenz nicht abreißt. Weniger und dafür konzentrierter wäre hier eindeutig mehr gewesen. Selbst ein ganzer Garten gesunder, grüner Keimlinge geht ein wenn sein Gärtner nicht für ausreichende Bewässerung sorgt und gefräßige Nacktschnecken fernhält. Als Bewässerung darf in diesem Fall der Mut zur Kompression und ein konzentrierteres Drehbuch gelten, als Nacktschnecke das gelegentlich mehr als müßig wirkende Spiel auf den betonierten Wegen des Geisterhorrors, das zwar dekorativ und spannend, für eine angemessene Erzählung der Geschichte aber nicht unerlässlich ist.
So kann man sich als Zuschauer bei aller faszinierten Aufmerksamkeit, mit der man dem visuell und akustisch betörenden Geschehen auf der Leinwand folgt, nicht des desolaten Eindrucks erwehren das der Regisseur hier drei in sich thematisch als Trilogie geschlossene Spielfilme gedreht und diese anschließend in übermüdeten aber immer noch enthusiastischem Zustand zu einem einzelnen Spielfilm von durchschnittlicher Länge zusammenmontiert hat. Straffungen, Wirrungen und dramaturgisches Füllmaterial in den falschen Momenten inklusive. Es wäre eine Lüge, „Sakebi“ das oft fragwürdiger platzierte Prädikat „fesselnder, abstrakter und origineller Mysterythriller“ abzusprechen. Nur das hier gerade der Thrill dem Drama, das selbst schon packend genug wäre, im Wege steht. Denn mühselige weil emotional und intellektuell unterentwickelte Passagen über die akribische Polizeiarbeit und zahllose genrereflexive Momente stören immer wieder empfindlich den nicht minder konfusen, dafür aber psychologisch und inszenatorisch homogenen menschlichen Konflikt und die symbolreiche Schilderung seiner Ursachen.
„Sakebi“ lässt einmal mehr erahnen, mit wie vielen großartigen Filmen von Kiyoshi Kurosawa wir auch in Zukunft rechnen können und das ihm so schnell wohl kaum sein kreatives Schwarzpulver ausgehen dürfte. Gerade das wird diesem Film jedoch zum Verhängnis: Ganz so, als gälte es das Leben und bereits jetzt ein filmisches Vermächtnis zu schaffen, geht der Ursprung des Gedankens zwischen unzähligen Verästelungen zunehmend verloren und schimmert, sicht – aber unerreichbar inmitten eines komplexen narrativen Geflechts das zu Betrachten zwar großen Genuss bereitet, den Zuschauer allerdings auch nicht selten ratlos Stirn runzeln lässt. Doch es soll da einen amerikanischen Regisseur namens David Lynch geben, der seit 1978 genau solche Spielfilme dreht und dafür vergöttert wird. Und mit etwas mehr Konzentration und markanterem Setzen seiner Prioritäten sollte diese Tür auch Kiyoshi Kurosawa offen stehen. Mit konventionellem Geisterhorror a là „Ju-on“ oder „Ringu“ hat „Sakebi“ nichts zu tun, vielmehr weckt er wohlige Assoziationen an die Großen des modernen, anspruchsvollen Genre-Kinos, also all jene ambitionierten Filmemacher, die sich genau genommen in gar keine Genre-Schublade einordnen lassen. Beste Vorraussetzungen also für eine glorreiche, interessante Karriere jenseits gespenstischer Horrorsümpfe.