***ACHTUNG: Der folgende Text enthält handlungsrelevante SPOILER***
Es ist der Alptraum aller Mütter und Väter: Plötzlich und ohne jede Spur verschwindet das eigene Kind. Und zunächst kann keiner sagen, ob es sich um ein Verbrechen handelt oder ob der Spross davongelaufen ist, aber in der Regel erfolgt ziemlich schnell bedrückende Gewissheit. Von diesem traurigen Thema handelt Otto Premingers Film „Bunny Lake ist verschwunden“ aus dem Jahre 1965.
Ann Lake und Tochter Bunny sind frisch nach London gezogen, doch das neubegonnene Leben gestaltet sich nicht so idyllisch wie erhofft. Als Ann ihre Tochter vom Kindergarten abholen will, muss sie entsetzt feststellen, dass das Kind verschwunden ist. Alle Bemühungen, ihre Spuren zu verfolgen, bleiben vergebens, sodass bald der Verdacht aufkommt, Bunny sei nur ein Fantasieprodukt und habe nie wirklich existiert.
Otto Premingers „Bunny Lake Is Missing“, so der Originaltitel, ist ein Werk, das seine Anziehungskraft langsam, aber durchsetzungsfähig mit jeder vergehenden Minute aufbaut. Zunächst beginnt der Film als relativ konventioneller Psycho- Thriller mit einem verschwundenen Mädchen im Mittelpunkt. Die vierjährige Bunny Lake wird von ihrer Mutter im Kindergarten abgeliefert und als diese das Kind wieder abholen möchte, scheint Bunny einfach unauffindbar. Dies mag auf den ersten Blick wirklich nach den Zutaten eines gewöhnlichen Thrillers klingen, doch bereits hier werden Vorkehrungen für das folgende Verwirrspiel gelegt, das den Zuschauer fortan in seinen Bann ziehen soll. Denn bis dahin haben wir nicht ein einziges Mal einen Blick auf die Tochter- um welche sich schließlich alles dreht- werfen können. Ann gibt Bunny im Kindergarten ab: Wir sehen Ann, wir sehen eine Köchin der Kindertagesstätte, aber Bunny bleibt nichts als ein Phantom, über das ausschließlich geredet wird. Auch in darauffolgenden Szenen scheint sie „unsichtbar“. Keines der anderen Kinder kann sich an sie erinnern und auch der Vermieter der Lakes, Horatio Wilson, schien nichts davon gewusst zu haben, dass seine neue Mieterin eine Tochter hat. Bei all diesen Indizien, denn von Beweisen kann und will natürlich zunächst niemand sprechen, kommt dem ermittelnden Polizisten Newhouse der Verdacht, Bunny Lake sei nur eine Fantasiegestalt. Angeheizt werden solche Vermutungen noch durch Anns eigenen Bruder Stephen, der von den imaginären Freunden aus Anns Kindertagen erzählt. Und so werden Rote Heringe ausgelegt, um den Zuschauer geschickt darauf loszulassen, was schlussendlich die Konsequenz mit sich bringt, dass sich Zweifel und Misstrauen einschleichen. Könnte wirklich alles nur Einbildung sein? Wäre es möglich, dass es nie eine Bunny Lake gegeben hat und dass die Mutter nur einem Gespenst hinterher rennt? Alles Fragen, die sich zwangsläufig stellen und den Film interessant und spannend bis zum Schluss machen. Dieser kann dann auch noch mit einer angenehmen Überraschung aufwarten, die wahrscheinlich keiner so schnell erraten hätte: Die Quelle allen Übels ist nicht irgendein Fremder oder gar Anns Fantasie, sondern ihr eigener Bruder. Ein auf seine Schwester fixierter Mann, der aus krankhafter Eifersucht die kleine Tochter entführt hat, damit er selbst wieder zum Mittelpunkt ihres Lebens wird. Der anfänglich seicht wirkende Thriller entwickelt ungeahnte Qualitäten und kann mit tiefen, psychologischen Abgründen aufwarten, die dem Film ausgezeichnet zu Gesicht stehen.
Ein besonderes Merkmal des Films ist sicherlich von Anfang an die dargebotene Figurenkonstellation. Wir haben nicht Vater, Mutter und Kind, sondern Bruder, Schwester und deren Tochter. Durch diese Ausgangslage bekommt der Film unweigerlich einen inzestuösen Touch, obwohl er nicht einmal im Geringsten andeutet, dass Bunny Stephens Kind sein könnte. Aber immerhin kommen bis zu dem Moment, als Ann die Familiensituation direkt anspricht, und Stephen als ihren Bruder vorstellt, beim Zuschauer –bedingt durch die Seherfahrungen- keine Zweifel auf, dass es sich bei den beiden nicht um ein Paar handeln könnte.
Aus schauspielerischer Sicht präsentiert sich der Film auf gutem Niveau. Zum einen haben wir den Polizisten Newhouse gespielt von Filmgröße Laurence Olivier, welcher die Rolle des latent ratlosen Polizisten wunderbar verkörpert. Auch der zweite männliche Part, Stephen Lake, dargestellt von Keir Dullea kann auf ganzer Linie überzeugen und legt gegen Ende noch einen Gang zu. Dort gelingt es ihm, bedingt durch seinen Psycho-Auftritt, dem Zuschauer noch den einen oder anderen kalten Schauer über den Rücken zu jagen, was dem Film einen würdigen Abschluss verleiht. Die letzte im Bunde ist Carol Lynley – Stephens Schwester Ann. Auch sie kann im Großen und Ganzen überzeugen, doch wirkt ihr Spiel stellenweise etwas zu kühl. Dieser Eindruck entsteht besonders in- aus rein subjektiver Sicht- emotionsgeladeneren Szenen, die unter Umständen mehr Einsatz von Seiten Lynleys verlangt hätten. Ob das jetzt beabsichtigte Intention, um etwa das Misstrauen des Zuschauers zu erwecken, oder ein kleiner Schwachpunkt des Films ist, vermag man nicht deutlich zu klären, birgt aber auch nicht allzu viel Diskussionswürdigkeit.