Es ist davon auszugehen, dass Antonionis “Blow Up” heute in erster Linie mit filmhistorischem Blick rezipiert wird, denn zu sehr stechen die stilistischen Einflüsse der Epoche inzwischen heraus. Retrospektiv muss also vorrangig das Abbild der herausragend studierten und wiedergegebenen Mod-Szene im London der 60er Jahre im Mittelpunkt stehen. Man ist dazu verführt, den Film als rhetorisch gewandten Märchenonkel zu betrachten, der dem Zuhörer seinen faszinierenden Blick auf eine Gesellschaft weiterreicht, zu der er einstmals selbst angehört hat; erzählt in authentischen Rückblenden aus der Ich-Perspektive. Der Fotograf Thomas, gespielt von David Hemmings, ist nämlich das junge Alter Ego des Geschichtenerzählers. Und so wie der Film altert, wird die Zeit, in der er spielt, bedeutsamer.
Die filmhistorische Annäherung auf eines der allgemein anerkannt wichtigsten Werke seiner Zeit ist im Grunde gar nicht mal so falsch und dennoch könnte man nicht weiter entfernt sein vom demjenigen, was tatsächlich interessant ist. Denn eigentlich ist es ja nicht das Gesellschaftsportrait, das Antonioni im Sinn steht, als er “Blow Up” dreht. Die Mod-Kultur zeichnet er nach, weil sie anno 1966 schlichtweg naheliegend ist. Vielmehr beschäftigt ihn dasjenige, was sich aus Drogen, Models, Parkas, Psychedelic Rock und vor allem der Fotografie schlussendlich ergibt. “Blow Up” ist ein Film über die sich überlappenden Grenzen von Objektivität und Subjektivität, er stellt gar die faktische Realität in Frage und macht sich daran, selbige zu überschreiten. Die Erkenntnis, dass nichts objektiv ist, kommt ganz zum Schluss - als Thomas ein Geräusch wahrnimmt, das nicht existiert: das eines pantomimischen Tennisballs, der mit der Kraft einer bloßen gestischen Bewegung aufgeschlagen wird.
Anstatt sich jedoch ungehemmt in die Mitte zu werfen, wie es Roger Corman 1967 wenig subtil mit “The Trip” bezweckte, um ein “Lebensgefühl” zu rekonstruieren, setzt Antonioni uns eine Figur vor, die ganz im Gegenteil ein klassischer Outsider ist und sich dem Leben, das ihn umgarnt, mit rationalen Kriterien von außen nähert. Thomas besitzt die isolierende Fähigkeit, Engagement und Enthusiasmus oder einfach nur das Interesse für ein Objekt an- und auszuschalten wie einen Lichtschalter. Er lässt seine Wahrnehmung nicht von leichten Mädchen oder Drogen beeinflussen, ordnet sich ihnen nicht unter, möchte Herr seiner eigenen kontrollierten Umwelt bleiben. Ein wichtiger Hinweis ist mit der Charakterisierung des hierdurch kaltherzig, zweckmäßig und pragmatisch wirkenden Künstlers bereits gegeben: “Blow Up” wird zunehmend nicht nur eine Mise-en-abyme entfesseln, die letztlich auch auf die filmische Herkunft von “Blow Up” hinweist. Die durch Sinneswahrnehmung bestimmte menschliche Existenz unterliegt vor allem einem gewaltigen Dilemma:
Einerseits ist Thomas davon überzeugt, außenstehend zu sein und objektiv urteilen zu können - sein Beruf ist vermutlich Ausdruck dieser Überzeugung. Andererseits merkt der Fotograf jedoch nicht, dass er trotz der vermeintlich “objektiven” Werkzeuge, die er bedient (Bilder lügen nicht) ein Manipulator ist, der seine Umwelt sortiert und bearbeitet, wie es ihm gefällt. Es kann keine endgültige Objektivität geben, ebenso wie die Gedankenfelder eines Menschen keine autonomen Gebilde sein können - sie werden durch unterschiedlichste Faktoren mit bestimmt, auch durch die Gesellschaft, in der sie leben. So ist nicht nur Thomas ein Produkt seiner Umwelt (auch wenn er zu glauben bevorzugt, dass er von der Umwelt unberührt bleibt) - der Film, in dem all dies stattfindet, ist es gleichermaßen.
Antonioni gesteht damit, letztendlich auch nur ein Produkt einer Gesellschaft zu sein, deren “Schein ist Sein”-Mentalität er eigentlich gerne entlarven möchte. Der “Blow-Up”, das Aufblasen eines Bildes auf ein größeres Format, lässt sich auch auf die Intention des Filmes beziehen, den man gleich mit diesem filmtechnischen Fachbegriff getauft hat. So wie der Fotograf eher zufällig durch seine Fotos einen Mord entlarvt, sucht der Regisseur bewusst eine Nähe zur Londoner Mod-Kultur der Sixties, um aufzudecken, dass mit Kleidung und Lebensstil letztendlich soziale Abstufungen verschleiert werden sollten. Der totale “Blow Up” zeigt durch die übermäßige Vergrößerung jedoch nichts außer einem undefinierbaren Pixelbrei. Dies ist Antonionis Geständnis: Ja, er will offenbar eine Welt voller Trug und Schein entblößen. Doch berücksichtigt er dabei, alleine schon durch sein künstlerisches Engagement wiederum eine Welt voller Trug und Schein zu erschaffen, die nicht notwendigerweise die Wahrheit zeigen muss, sie vielleicht nicht einmal zeigen kann, weil es möglicherweise keine “Wahrheit” im faktischen Sinne gibt.
Erst diese Selbsterkenntnis macht “Blow Up” so großartig. Dem Regisseur gelingt es hierdurch, sich kritisch mit einer Subkultur auseinanderzusetzen, ohne darauf verzichten zu müssen, ihre Faszination aufzuzeigen. Wenn etwa Models wie lebende Kunstwerke inszeniert werden, Einblicke in Drogenparties gegeben werden, die Yardbirds die Ursprünge des Rock’n’Roll aufzeigen, als der Gitarrist sein Instrument aufgrund von Verstärkerproblemen auf dem Boden zertrümmert - die Umpolung der negativen in eine positive Kraft ist die Geburt eines Lebensgefühls. Jeder ambitionierte Filmemacher kann sich vornehmen, einen gesellschaftskritischen Film zu machen, aber nur die Besten schätzen ihre eigene Position in dem Spiel richtig ein, geschweige denn, dass die eigene Position überhaupt registriert wird.
Hinzu kommt, dass “Blow Up” auf nahezu einzigartige Weise gealtert ist. Der Film ist kompakt und jede Szene spürbar von Bedeutung; die Dramaturgie holpert allenfalls auf der Zielgeraden ein wenig und die zentrale Schlüsselszene im Park ist derart meisterhaft multiperspektivisch gefilmt, noch dazu angereichert mit einer vortrefflichen Soundkulisse komplett ohne Musik und nur mit dem gewaltigen Rauschen des Windes, dass sie sich über den Restfilm erhebt und ihm schon aus eigenem Antrieb heraus eine markante Struktur verleiht.
Von diesen Artefakten der Zeitlosigkeit abgesehen, hat sich die Position, in der man sich der Hauptfigur gegenüber befindet, stark verändert. 1966 muss der Fotograf vom Publikum tatsächlich als Außenstehender betrachtet worden sein; heute ist er wesentlich mehr Identifikationsfigur, da die gezeigte Kultur uns heute fremd ist und sie in unserer eigenen Kultur allenfalls noch in abgeschwächter Form, etwa in den Einflüssen moderner BritPop-Bands, ein nostalgisches Dasein fristet. Umso mehr hat “Blow Up” mit den Jahren gewonnen, als der Sand des 60er-Jahre-Zeitgeists langsam verweht wurde und das Monument hervorbrachte, das sein Jahrzehnt nicht umsonst im cineastischen Sinne zu einem großen Prozentsatz repräsentiert.