Florian Sand (Per Oscarsson), ein erfolgloser Münchner Künstler, erhält Besuch von einem mysteriösen Fremden (Heinrich Schweiger) der ihm und seiner Frau Anna (Rosemarie Fendel) eine Einladung der besonderen Art übermittelt: Patera, ein Schulfreund Sands, fordert ihn auf, in seine „Traumstadt“ zu ziehen, ein eigenes Mikrouniversum welches Patera mitten in einer unwirtlichen Wüste erschaffen hat. Dort sollen die Menschen in vollkommener Harmonie und Zufriedenheit leben, jeden Wunsch erfüllt bekommen und nie in Konflikt miteinander geraten. Skeptisch treten die Sands die Reise an. Angekommen in der Traumstadt, lernen sie deren Vorzüge ebenso schnell schätzen wie ihre mysteriösen Ungereimtheiten fürchten…
Mit „Traumstadt“ ist Johannes Schaaf, einem Regisseur der heute maximal in den Fußnoten deutscher Filmliteratur mit seinem (sehenswerten) dritten Spielfilm „Tätowierung“ (1967) aufgeführt wird, die formvollendete Quintessenz filmischen Surrealismus gelungen. So brillant und subversiv Filmemacher wie Alejandro Jodorowsky, Fernando Arrabal, Federico Fellini oder Luis Bunuel auch waren, bzw. sind – ihnen allen überliegt im Hinblick auf diesen Oberbegriff Schaafs in Vergessenheit geratenes Ausnahmewerk des sonst so antianarchischen deutschen Kinos durch eine beispiellose Konsequenz und Raffinesse. Anstelle eines spektakulären, formal wilden und narrativen Exzesses steht ein allumfassendes, durchdringendes Gefühl des Unbehagens, eine Unsicherheit, eine unbekannte Art von Gefühl, vielleicht benennbar als subjektiv empfundene Eigentümlichkeit. Dieses Gefühl - oder, um den „banalisierenden“ Begriff der Emotionalität auszuschließen – diese Wahrnehmung transformiert im Verlauf des im Aufbau scheinbar lakonischen und einfachen Films zunehmend zur vollkommenen Absurdität, zu einer unsichtbaren Kraft, die dem Zuschauer jeglichen Halt und jede Konstante verwehrt. Radikal. Kompromisslos. Uneindeutig.
Egal auf welcher Ebene, Schaaf lässt nicht zu, dass sein Publikum eine reelle Gelegenheit erhält, sich in den Film „einzufühlen“. Die Szenenfolge wirkt fragmentarisch, die Charaktere im einen Moment pychologisch nachvollziehbar, im nächsten wie grotesk zusammengeworfene Mixturen menschlicher, kultureller und biologischer Kuriositäten. Sehr oft bedienen sich der Regisseur und seine Co-Autorin als auch Ehefrau und Schauspielerin Rosemarie Fendel bei der Adaption von Alfred Kubins Roman religiöser und historischer Symboliken, nur um sich durch eine bewusste Deplazierung selbiger am sachlich rechten Fleck über ihre [der Symboliken] aus vermeintlicher intellektueller Differenzierung geborenen Klischees lustig zu machen und den Zuschauer in seinem Wunsch nach hilfreicher Linearität zu entlarven.
Die Inszenierung erweckt einen fahrigen, konfusen Anschein – das allerdings muss zwangsläufig pure Berechnung oder reiner Instinkt gewesen sein, ruft man sich „Tätowierung“ oder „Momo“ ins Gedächtnis zurück die beide geradlinig und narrativ von dramaturgischer wie technischer Beherrschung zeugten. Mehr noch als surrealistische Klassiker wie „Un chien andalou“, „El Topo“ oder „Satyricon“, die doch allesamt noch einem auffälligen Minimum an Psychologie bei der Zeichnung der Charaktere und dramaturgischer Homogenität verpflichtet sind, stellt „Traumstadt“ die totale Antithese zur rational verwurzelten Narration, zum Geschichtenerzählen auf.
Keine Sequenz will zur anderen passen, kein Schnitt scheint zum richtigen Zeitpunkt zu erfolgen, jede Einstellung, jeder Zoom und jede Fahrt lösen sich im Nichts oder in ihrem Ursprung auf. Jeder Dialog scheint den bereits verstrichenen Abschnitt des Filmes ad absurdum zu führen und hat mit dem übrigen Gesamtbild nur dort Berührungspunkte, wo solcherlei Verknüpfungen keinerlei „Funktion“ einnehmen zu scheinen. Es gibt keinen Stil, keine Einheit, keine Straße ohne Kurven. Die Bedeutungslosigkeit einer Geschichte oder Genres für die Vermittlung von Inhalten wird hämisch unterstrichen durch dieses spontane Nicht-Konzept, dem in diesem Fall ein unschwer wiederzugebender Plot zugrunde liegt – der jederzeit erkenntlich bleibt. „Traumstadt“ ist mal ausgesprochen krude, dann wieder Szenenweise „schlüssig“ und „glatt“ inszeniert. Was gelegentlich dilettantisch wirkt, ist in Wirklichkeit pure Absicht und was makellos scheint, eher Zufall oder Berechnung. Nur: Was beispielsweise von einem Jean-Luc Godard oft kokett ausgestellt wurde, bleibt hier immer beiläufig, selbstverständlich, unaufgeregt.
Den Höhepunkt, bzw. die schlussendliche Bündelung dieser vollkommenen Anarchie, deren einzige Methode eine Form von umgekehrter, also freiwilliger Hysterie ist, stellt eine – natürlich! – gegen die Seherwartungen des Zuschauers choreographierte Szenenfolge in einem Theater dar: Da in Panteras Traumstadt jeder alles bekommt, was er begehrt, werden auf der Bühne des Stadttheaters eine Unzahl verschiedener Theaterstücke gleichzeitig aufgeführt. Abstraktes und Einfaches, Farbenfrohes und Spartanisches, Tragisches und Burleskes, Zeitgenössisches und Historisches, Absurdes und Naturalistisches vereinen sich zu einem beispiellosen Chaos, das Schaaf wissentlich nicht als Groteske sondern als Selbstverständlichkeit inszeniert. Als unbedarfte Verspottung des Glaubens an die Allmacht des Intellekts, als bizarre Szenerie des Irrsinns und Beweis für die Disfunktionalität von Anarchie, in Gesellschaft wie Kunst, ersteht dieses Chaos erst im Kopf des Zuschauers. Im Kontext eines Films, der keine klar abgesteckten Höhepunkte, keine durchgehende Dramaturgie und eine geradezu willkürliche Narration sein eigen nennt, ist dies nur eine Station, die aufzeigt, das wir als Zuschauer wohl nie einem Film zur Gänze auf der Augenhöhe der Wirklichkeit begegnen können. Weil wir ein Teil einer Gesellschaft und somit einer festen Struktur bleiben, die uns – in welcher Ausrichtung und welchem Ausmaß auch immer - bestimmte Mechaniken der Wahrnehmung fürs ganze Leben unwiderruflich einpflanzt ohne dass wir uns dagegen wehren können.
Manche Filme, vielleicht sollte man konkreter sagen: Sehr wenige Filme, können bei ihren Rezipienten zu einem Hauch von echter Bewusstseinserweiterung führen. „Traumstadt“ muss in diese schmale und natürlich undefinierte Liste der Möglichkeiten, deren Teil er ganz offensichtlich noch nicht offiziell ist, aufgenommen werden. Das Johannes Schaaf trotz der kostbaren Meisterschaft, die er hier bewies, keine nennenswerte Karriere beschieden war, das ist paradox. Andererseits: Ein so subversives und suggestives Element unauffällig zu „entfernen“ war vielleicht sogar nötig – Das Ausmaß der Macht, die eine filmische oder sonstig materiell erschaffene Illusion auf uns haben kann, wirkte selten Furcht einflößender als nach „Traumstadt“, einem Film der sich dieser Macht halb bewusst und aus Protest, halb aus dem Bauch und Unterbewusstsein heraus, entzieht und sich weigert, von ihr Gebrauch zu machen. Möglicherweise der am schändlichsten übergangene, meist unterschätzte Film aller Zeiten der für immer ein Unikat bleiben dürfte, ein Beispiel purer und verstörender Transzendenz auf der Kinoleinwand.