1.
Der verschollene Argento. Beim Verleiher des Filmes, der Paramount, hatte man 1972 die grandiose Idee, Dario Argentos dritten Spielfilm nur in kleinen Provinzkinos zu starten, da man sich erhoffte, auf diesem Weg daraus einen Underground-Kulthit zu machen. Das Ende vom Lied war, dass es lange Jahre fast unmöglich war, den Film zu Gesicht zu bekommen. Die deutsche Synchronisation gilt mittlerweile als verschollen und in vielen Ländern sind nicht einmal mehr Kinokopien aufzufinden.
Die Geschichte ist einfach, aber effektiv: Der Schlagzeuger Roberto (Michael Brandon) fühlt sich von einem mysteriösen Fremden verfolgt. Als er ihn in einem verlassenen Theater zur Rede stellen will, tötet er ihn aus Versehen. Zu spät bemerkt er, dass eine dritte Person ihn dabei fotographiert hat. Im Lauf des Films wird immer deutlicher, das irgend jemand versucht, ihn in den Wahnsinn zu treiben...
Obwohl hiermit ein glänzendes Trittbrett für einen nervenzerrenden Thriller vorhanden gewesen wäre, kommt Argentos Film reichlich gemächlich und unspektakulär daher. Vielleicht hatte er tatsächlich nur jenes Ansinnen, das vom katholischen Filmdienst genannt wurde: Das Einbrechen des Grauens in eine bürgerliche Existenz zu schildern. Das trifft denn auch zu. Der Horror ist hier ein ganz anderer als sonst bei Argento üblich. Der Identitätsverlust, der Zweifel an sich selbst und vor allem das Gefühl, die Vorgänge um sich herum nicht erfassen und verstehen zu können, das ist es, was Robertos Psyche immer mehr untergräbt und ihn zum labilen Nervenbündel werden lässt. Dieses Motiv erinnert schon beinahe an David Lynch oder Alfred Hitchcock, und es ist sehr bedauerlich, dass Argento es nicht in einem weiteren Film noch einmal aufgegriffen hat. Auch die Einsamkeit spielt eine Rolle: Außer den obligatorischen Band-Kollegen und seiner Frau Nina (Mimsy Farmer) hat er eigentlich keine Freunde, sieht man vielleicht noch von Godfrey (Bud Spencer), auch "God" genannt ab, der den Film um eine tüchtige Dosis trockenen Humors bereichert, welcher bei Argento selten genug vorzufinden ist.
Im Gegensatz zu den beiden Vorgängern "L'Uccello Dalle Piume Di Cristallo" (dt. "Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe") und "Il Gatto Nove Code" (dt. "Die neunschwänzige Katze") lässt sich dieser Film auch nicht mehr dem Subgenre des Giallo zuordnen, viel mehr ist er ein Drama mit Krimielementen. Teilweise gerät das Geschehen auch schon fast zur Groteske, insbesondere in den Szenen mit Godfrey oder mit dem schwulen französischen Privatdetektiv, den Roberto anheuert.
Für die Musik war einmal mehr Ennio Morricone zuständig. Ursprünglich waren Deep Purple für den Soundtrack vorgesehen, doch von deren Seite bestand kein Interesse. Obwohl die sparsam eingesetzten Klänge meines Erachtens sehr passend sind, war Argento mit Morricones Arbeit so unzufrieden, das er sich mit dem ehemaligen Freund zerstritt und erst 23 Jahre später bei "La sindrome di Stendhal" (dt. "Das Stendhal Syndrom") wieder mit ihm zusammenarbeitete. Seine Suche nach neuen Komponisten sollte ihn schließlich zu der Prog-Rock-Band Goblin führen, deren Name heute untrennbar mit Argentos bekanntesten Werken "Profondo Rosso", "Suspiria" und "Tenebre" verbunden ist.
Ebenso wie bei "Il gatto nove code" gibt es auch hier eine ganze Ansammlung an Ungereimtheiten und unsinnigen Ideen, allerdings verzeiht man sie leichter als bei ersterem Streifen. Insbesondere zahlreiche Spielereien mit der Kamera sind sehr schön gelungen, alleine der Titelvorspann ist ein Fest fürs Auge mit seinen bizarren perspektivischen Verfremdungen, gleiches gilt für die phänomenale und wunderschön makabre Schlusssequenz.. Es bleibt zu hoffen, dass die schwierige Rechtslage, die den Film umgibt, eines Tages vielleicht doch noch geklärt wird und "Quattro Mosche di Velluto Grigio" eine verdiente und qualitativ angemessene Veröffentlichung auf DVD erhält, damit die gebotene optische Pracht sich voll und ganz entfalten kann.
FAZIT: Passables Krimi-Drama, das mit Argentos übrigen Filmen nur die visuelle Brillanz teilt. Über weite Strecken sehr langatmig und wirr erzählt, vermag der Film dennoch durch seine interessante Geschichte, gelungene Kameraführung und eine melancholische Grundstimmung zu fesseln. Für Fans einen Blick wert, für den Rest vielleicht etwas zu unzugänglich und wohl auch zu harmlos, da es hier noch keine ausgedehnten Mordszenen wie in Argentos späteren Werken gibt.
(Zuerst veröffentlicht am 22.04.2006 in der OFDB, Bewertung: 8/10)
2.
Endlich, nach sovielen Jahren des Sehnens, in einer erhellenden Fassung gesehen und mich frisch verliebt. Der Film, ein wenig wie eine erfrischend reduzierte, luzide Generalprobe für PROFONDO ROSSO*, zeigt, warum es nicht mehr sehr viel länger hätte weitergehen können mit Argento und straightem Genrekino. Wie sich der Film beim sich-gehen-lassen an seiner hier an sich schon ausreichend esoterisch angelegten Genreökonomie reibt, das legt die enorme intellektuelle Arbeit, die vertrackte Verflechtung und Verschachtelung filmischer Gedankengänge hinter dem Werk offen – so hat man das bei Argento vielleicht nicht noch einmal gesehen, außer vielleicht im ausreichend mit Meta-Impulsen durchsetzten Nachfolgefilm LE CINQUE GIORNATE (den leider niemand ernstzunehmen und mit wirklichem Interesse zu sehen scheint – Argento hat seine Fans nicht verdient.)
Es gelingt nicht mehr, diese Reibungen zu kaschieren oder zu verstecken wie in den beiden Vorgängern. Dieser Regisseur möchte woanders hin, auch wenn er von der Mythologie des Kriminalfilms nicht lassen kann und möchte. QUATTRO MOSCHE DI VELLUTO GRIGIO steht in all seiner introvertierten Heterogenität völlig neben dem und abseits des expressiven italienischen Genrekinos dieser Tage. Von einigen Weitwinkeleinstellungen und Morricone-Musik lasse ich mich nicht mehr an der Nase herumführen, wie noch damals, mit 17, als ich Argento mit vor Staunen brennenden Augen für mich entdeckte und völlig benommen erstmals durch seinen Bildergarten taumelte. Heute ärgert es mich, das den Menschen zu Argentos Filmen nichts Interessanteres einzufallen scheint, als stets ohne große Fantasie, ohne persönlich eingefärbten, suchenden und neugierigen Blick über tolle Bilder und tolle Musik zu schreiben.
Ich habe seither soviel italienisches Genrekino verschlungen, aus allen Ritzen und Ecken, weit über die verzerrend-einengenden Grenzen der DVD-Verfügbarkeit hinaus, dass ich das erst jetzt erfasst und gesehen habe: dieser Film ist, ebensowenig wie eigentlich jeder andere kriminalistische Argento-Film nach ihm, kein “Giallo“, besitzt über Mitarbeiter und Darsteller hinaus kaum Berührungspunkte mit dem, was Romolo Guerrieri, Umberto Lenzi, Sergio Martino, Giuseppe Vari, Lucio Fulci, Massimo Dallamano, Ugo Liberatore, Luciano Ercoli, Aldo Lado, Luigi Bazzoni, Mario Colucci, Alfonso Brescia und wie sie auch alle heißen, zeitgleich machten. Er ist ein richtiger Autorenfilm im Sinne der ursprünglichen Konnotation des Begriffes, ist von Filmhandwerk und Filmindustrie in seinem Inneren unendlich weit entfernt. Ich meine das nicht wertend. Mein Erlebnis mit dem Film, bei dieser erneuten Begegnung, war ein sehr eigentümliches. Plötzlich schien mir das alles nach den zahllosen italienischen Filmen dieser Zeit, die ich über die letzten drei Jahre hinweg gesehen habe, so fremd, so weit weg und in völlig anderen Bewegungen fortschreitend als dieses Kino, dem er gemeinhin salopp zugerechnet wird und das ich glaube, inzwischen sehr gut zu kennen. Auch hierin liegt keine Wertung. Es ist nur eine Irritation. Eine wunderbare, allerdings auch etwas enttäuschende Irritation. Trotz schäbiger Bootleg-Kopien hatte ich eine Erinnerung an diesen Film.
Aber ich schrieb von einer Irritation. Die im Film selbst auch zu stecken scheint. Diese nachmittägliche Welt des Films, bevölkert von Charakteren, deren extreme Passivität etwas Beunruhigendes hat, angeführt von einem der unheimlichsten Argento-Protagonisten (* ein Bruder von David Hemmings’ Marc aus PROFONDO ROSSO, ohne die Herausforderung allerdings, sich mit einer Frau arrangieren zu müssen). Ein schöner Jüngling mit langem Haar, der nur in diese Welt gesetzt worden zu scheint, damit sich in ihm eine zeitlose Gleichgültigkeit und der Schwachsinn von Urteilswillen vereinen können. Er ist wie ein Zwilling von Marlon Brandos gespenstisch-schwächlichem Fletcher Christian in der faszinierend schief skizzierten 1962iger-Verfilmung von MUTINY ON THE BOUNTY. Jener Fletcher Christian hätte vermutlich gerne nach Naivität gesucht, aber er sah diese Möglichkeit nicht. Michael Brandons Roberto könnte in QUATTRO MOSCHE DI VELLUTO GRIGIO nach Naivität suchen, aber soweit sind Argentos Figuren hier noch nicht. Es ist der Mörder, dem hier diese Tür offensteht. In späteren Filmen werden es die Heroinen sein.
Die Szene, in der Roberto, diese ratlos machende, provozierend glatte und so regungslose Figur, in der Badewanne mit der Cousine seiner Frau schläft, ist für mich immer noch einer der seltsamsten Ausreißer und verkorkst lyrischsten Momente in Argentos Filmographie. Wenn diese Figur, wie schon oft und gerne aufgrund der optischen Ähnlichkeiten mutmaßt wurde, tatsächlich ein alter Ego sein sollte, wäre das eine unzumutbare Verführung zu peniblen Entschlüsselungen. Wie auch der ganze Film vor Ideen, Einfällen, Experimenten und mit kühner Geduld ausgespielten, da oft ganz und gar nicht einem spezifischen “Zweck” folgenden Tableaus nur so strotzt, aber ganz ruhig. Der Kontrollfreak Argento ist hier ständig zu spüren, auch das ist ungewohnt. Er sollte später lernen, sich besser zu verstecken. Es ist eine große, sehr große Freude. Die unbeirrbare Ruhe, mit der dieser Strom fließt. Das muss auch so sein. Es ist, wieder einmal, wie so oft bei Argento, ein Film über Einsamkeit und die Angst vor deren unberechenbarem Ende, sprich: den Teufelskreis, der sich daraus ergibt.
Dazwischen einige geheimnisvolle Krümel italienischen Klamottenhumors, die alles, was so faszinierend und wunderbar ist an diesem Film, noch unterstreichen und sinnreich daran erinnern, aus welcher Realität diese Bilder und Stimmungen stammen.
Aber ich bin abgekommen, vom Wiedersehen, von der Begegnung, die so eigentümlich war. Es ist vor allem eine solche Freude, weil es ein Wiedersehen ist, das wie ein Kennenlernen scheint. Man beginnt erst zu begreifen, sieht andere Filme rückblickend neu. So glaube ich etwa, dass L’UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO, Argentos von mir zutiefst verehrtes Debüt, vielleicht tatsächlich sein einziger richtiger Genrefilm war. Im Sinne von: das einzige Mal, dass Dario Argento einen Dario Argento-Genrefilm gemacht hat, statt einem Dario Argento-Film mit Genrefilm-Anstrich. Ich habe ungeheure Lust, mir all seine Filme wieder einmal anzusehen, sie neu zu ertasten, mit meinen neuen Augen, die seit dem letzten Mal soviel mehr vom Kino gesehen haben.
(Zuerst veröffentlicht am 11.09.2012 unter http://www.eskalierende-traeume.de/sehtagebucher/, Bewertung: 9/10)