Nicht oft wird über tschechische Filme gesprochen, diskutiert man über die großen Werke des europäischen Films. Leider, denn hier gibt es sicher einiges zu entdecken. Völlig zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist etwa "Tausendschönchen", seit seiner Kinoauswertung zumindest in Deutschland regelrecht unter den Tisch gekehrt. Regisseurin Vera Chytilová hat hier ein zeitloses, Meisterwerk des gesellschaftskritischen Filmes hingelegt, dessen Aussage auf die Gesellschaft der Gegenwart beinahe noch zutreffender erscheint als zu seiner Entstehungszeit.
Zwei Mädchen sitzen auf einem Bootssteg. Die eine beginnt zu fragen und die andere antwortet mit Gegenfragen. In nur wenigen Sätzen stellen sie fest: Die Welt wird immer verdorbener, niemand erkennt einen Sinn in irgendetwas und die Menschheit treibt in ihrer Gleichgültigkeit und ihrem Egoismus immer mehr dem Abgrund entgegen. Doch statt dies mit Resignation hinzunehmen wählen die beiden die Reaktion, die ihnen als angemessen erscheint: Die Verdorbenheit der Welt mit einem verdorbenen Lebensstil zu beantworten. Von nun an ist es ihr ehrgeiziges Ziel, immer verdorbener zu agieren und die scheinheilige Ordnung ihres Umfeldes auf den Kopf zu stellen...
Was nun nach einem todernsten Drama klingt, entpuppt sich schon nach wenigen Minuten als groteske Satire, durchsetzt mit dem bizarr übersteigerten und irrwitzigen (aber in diesem Fall auch ausgesprochen bissigen) Humor wie man ihn aus den Stummfilm-Lustspielen von Charlie Chaplin, Laurel & Hardy und Buster Keaton kennt. Und als ob das nicht schon im positiven Sinne befremdlich genug wirken sollte strotzt der Film vor leicht bis extrem surrealen Sequenzen und Einfällen, ein überbordender Bilder- und mehrmals auch Klang-Bogen an Einfallsreichtum.
Chitylová spielt mit den unterschiedlichsten Stilmitteln um ihr Ziel, auf das ich noch eingehen werde, zu erreichen: Grobkörnige Schwarzweiß-Bilder wechseln sich in rascher Folge ab mit kunterbunten Impressionen wie aus einem Kinderbuch und farblich verfremdeten psychedelischen Einstellungen.
Dazwischen gibt es auch verschiedene Schnittmontagen, angesichts derer Hitchcock mit seiner Dusch-Szene vor Neid erblassen würde. Die meist sehr muntere Musik (die perfekt mit der manischen Fröhlichkeit der beiden Protagonistinnen korrespondiert) passt sich oft dem Rhythmus der Bilder an und scheint mit ihnen zu verschmelzen. Selten habe ich eine derart gekonnte Verknüpfung von Bild und Ton erlebt. Und einige Bildverfremdungen, die man unwillkürlich dem digitalen Zeitalter zuweisen würde, lassen einen szenenweise daran zweifeln, das dieser unglaublich morderne und innovative Film tatsächlich schon 40 Jahre auf dem Buckel hat.
Anzumerken ist aber auch, das all diese Stilmittel wirklich als solche zur Geltung kommen und nicht wahllos hier und da angewendet werden. Hier ist nichts außer Kontrolle geraten sondern mit viel Gespür für den Moment sorgsam ausgewählt worden. Eine Stärke, auf die man leider viel zu selten trifft. Wieviele inszenatorisch herausragende Filme wissen mit ihren Bildern und Klängen nichts rechtes anzufangen?
Allerdings sorgen diese Effekte ebenso wie die fast schon karikative Darstellung der beiden Mädchen für eine Artifizierung, die das realitätsbezogene Verstehen des Filmes für manch einen sicher nicht ganz leicht macht, doch eine realitätsbezogene Betrachtungsweise scheint die Regisseurin ohnehin nicht beabsichtigt zu haben.
Soweit zu den handwerklichen Stärken die schon ausreichen um den Film zu einem Fest für jeden Cineasten zu machen doch wie aus der Inhaltsangabe bereits offensichtlich wird, sind alle oben genannten Aspekte lediglich ein Mittel zum Zweck, eine Botschaft zu vermitteln die damals wie heute einer Bombe gleich einschlägt und auch trifft. Die Texteinblendung am Ende lässt keinen Zweifel über die Absicht der Regisseurin "Dieser Film ist all jenen gewidmet, die sich nur über den zertretenen Salat empört haben."
Zur Erläuterung dieser Botschaft muss noch ein weiteres Mal auf die Handlung eingegangen werden: Die beiden Mädchen beginnen nach ihrem Beschluss mit allerliebster, kindlicher Selbstverständlichkeit, zu schmarotzen, sich bewusst unmanierlich zu benehmen, zu verwüsten und zu beleidigen. (Dies geschieht aber nie in bösartiger oder aggressiver Weise). Anstatt auf die Avancen verliebter junger und alter Männer einzugehen nutzen sie Diese zuerst aus und amüsieren sich anschließlich ausgiebig über deren beharrliche Anrufe, die sie, allerlei Schlemmereien genießend, laut abhören. Im Finale treffen die Mädchen in einem leeren Speisezimmer ein reichlich gedecktes Buffet voller Delikatessen. Enthusiastisch fallen sie über die Speisen her und verwüsten den Tisch und das Zimmer in einem genießerischen Rausch, der von einer destruktiven Tortenschlacht gekrönt wird.
Dies ist vielleicht die heftigste von zahllosen Attacken auf den zivilisierten Ordnungs- und Wertigkeitssinn. Das stets muntere Duo, das wie bereits erwähnt mit seinem tollpatschigen Auftreten und dem erstaunten, großäugigen Kinderblick nie bösartig wirkt, hangelt auf Tischen und Balustraden eines Tanzlokals herum, empört und stört die Gäste zutiefst, verzehrt gierig und animalisch Torten und Desserts und redet laut mit vollem Mund um ihre Gastgeber am Ende mit einer ellenlangen Rechnung sitzen zu lassen und sich lachend zu verabschieden.
All dies sind Ereignisse, die man, würde man ihnen in der Realität beiwohnen, mit einem Kopfschütteln oder eben sogar mit Empörung honorieren würde. Und mancher (ich jedenfalls nicht) wird fassungslos dem Herumgemantsche, dem Werfen und dem Zertrampeln der liebevoll garnierten Delikatessen beiwohnen. Doch all diejenigen, die sich hierüber ereifern, haben den Sinn dieses einzigartigen Filmes nicht verstanden und gehören der Zielgruppe an, der Vera Chytilová ihr Werk gewidmet hat.
Was ist nun die Aussage, bzw. die Absicht des Filmes, die diese Zuschauer nicht erreicht hat? Zu Beginn im Vorspann und dann wieder im Abspann sieht man grieselige Super 8-Aufnahmen von Bombenregen und explodierenden Minen. Darauf folgt unvermittelt der Schnitt auf die beiden Mädchen. "Weißt du was das alles soll?" fragt die Eine. Zwischenschnitt auf ein unter Bomben einfallendes Haus. "Keine Ahnung, aber es ist ganz schön verdorben, nicht?" antwortet die Andere. Krieg ist nun vielleicht nicht das treffendste (obwohl?) aber mit Sicherheit das eindrucksvollste Beispiel für die "Verdorbenheit der Welt". Die unverschämten kleinen Possen der beiden Mädchen, die hier und da die alltägliche Struktur und den Glauben ihrer Mitmenschen aus dem Gleichgewicht bringen sind nichts im Vergleich zu dem zynischen Massenmord eines Krieges. Und während in jeder Sekunde wer weiß wieviele Menschen sterben, konsumieren wir was das Zeug hält. Doch wofür? Eigentlich nur für uns selbst.
Der ständige Konsum tritt in "Tausendschönchen" in Form von exzessivem Essen, von Völlerei an den Tag, soviel, so reichlich und fett, das einem irgendwann nur vom Zuschauen regelrecht schlecht wird. Und doch spiegeln diese Szenen doch nur die Dekadenz wieder, die sich seit den 50ziger Jahren über die Welt gelegt hat. Warum sollte sich ein denkender und gebildeter Mensch über die Taten der Protagonistinnen mehr erregen als über millionenfaches existenzielles Leid und Tod? Fakt ist sicherlich, das die Empörung über diese kleinen Entgleisungen von Anstand und gutem Geschmack während des Sehens wohl bei den meisten für weitaus mehr Empörung sorgen als alles andere.
Und hier ist eben jene Verdorbenheit begraben: Wir sehen Dinge, die für uns persönlichen und materiellen Wert haben wie ein gemütliches Zuhause, gutes Essen, Ordnung und Manieren in Schall und Rauch aufgehen. Und wir ringen uns die Hände um diese kleinen Dinge, weil sie uns näher stehen als die wahren Opfer, die wirklich Leidtragenden in der Welt da draußen, denen wir letzten Endes keine Träne nachweinen. Ist das nicht eigentlich verdorben? Durchaus! Und deswegen sind diese beiden quirligen Mädchen (denen man eben irgendwie auch gar nicht böse sein kann) auch längst nicht so verdorben wie die Welt, der sie sich rebellisch und naiv gegenüber stellen.
Und dies ist wohl die Quintessenz des Filmes: Warum sich über das Zuspätkommen des Partners aufregen oder über einen zerbrochenen Teller, wenn nebenan ein bewohntes Hochhaus einstürzt? Spätestens hier würde jeder aus moralischer Heuchelei antworten: "Ja, natürlich ist das mit dem Haus viel schlimmer!" Doch in dem Moment ist der Verlust einer vertrauten, materiellen Sache, der Ordnung schlimmer- weil sie einem näher steht als die fremden Leichen unter den Gebäudetrümmern. Und das das verdorben ist, darüber kann kein Zweifel bestehen, darüber das diese Reaktionen tatsächlich sind ohnehin nicht.
Diese Botschaft ist nicht verschlüsselt wie sie es bei einem David Lynch oder Federico Fellini vermutlich gewesen wäre sondern für jedermann verständlich und offensichtlich, doch spürt man keinen aufdringlichen moralischen Zeigefinger im Nacken. Auch kann man ihm nicht unterstellen, die Anarchie zu verherrlichen. Und so muss ein großes Lob auf diesen Geniestreich von Vera Chytilová ausgesprochen werden, ein Film, den auch heute möglichst viele Menschen sehen sollten und der seine Wichtigkeit und vor allem seine Wahrheit wohl nie verlieren wird.