Review

Ich beabsichtige nicht, hiermit einen umfassenden Eindruck von Pier Paolo Pasolinis „Teorema“ zu liefern- lediglich einen Versuch, einige Grundmotive und die Struktur dieses komplexen, abstrakt erzählten Gleichnisses wiederzugeben. Einen Diskurs der sich sinnlich-stilistisch,  aber doch nie prätentiös mit Glauben und seinen zahlreichen Gesichtern, emotionaler Verwahrlosung und zivilisatorischen Utopien beschäftigt.

In das gesetzte, aber zugleich auch triste Leben einer großbürgerlichen Familie in Mailand dringt ein Indikator ein, der einen bleibenden Eindruck hinterlassen wird. Der Besucher (Terence Stamp) ist ein stiller, unaufdringlicher Gast- dem sich bald seine Gastgeber aufdrängen. Jedes Familienmitglied, auch das Hausmädchen Emilia (Laura Betti) ist wie ausgewechselt- betört und besinnungslos von der Schönheit und Sanftmut des jungen Mannes. Jeder, der Sohn Pietro (Andrés José Cruz Soublette), die Mutter Lucia (Silvana Mangano), die Tochter Odetta (Anne Wiazemsky) und sogar der Vater Paolo (Massimo Girotti), Besitzer einer großen Manufaktur, scheinen über seiner Anwesenheit den Verstand zu verlieren, ist ihm verfallen. Jeder von ihnen schläft mit dem rätselhaften Fremden. Als er abreist bleiben sie aufgestört zurück. Jeder von ihnen kompensiert die plötzliche, ihnen unbegreifliche  Leere, Lethargie und Einsamkeit unterschiedlich, doch ihnen allen ist eines gemeinsam: Ihr Leben wird nie wieder das gleiche sein…

Du sollst Gott deinen Herrn lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deinen Kräften und deinem ganzen Denken und deinen nächsten wie dich selbst
(Lukas 10, 27)

Jenen Fremden bezeichnete Pasolini - der Religiosität als pro-marxistische Erscheinung immer wieder aufgriff - als Jesus-Figur, als Erlöser. Schon das Licht, in das er seinen ebenso attraktiven wie jugendhaft-unschuldig wirkenden, charismatischen Darsteller Terence Stamp rückt, unterstreicht diese Absicht. Mehrmals filmt er ihn im Gegenlicht der hell scheinenden Sonne, setzt ihm einen „Heiligenschein“ auf. „Teorema“ hat zweifellos etwas biblisches, ist ein ausgesprochen spiritueller Film und wirkt wie eine Abstraktion der Passionsgeschichte- nur das in diesem Fall nicht der Messias sondern seine Jünger im Mittelpunkt stehen. Und auf die „Kreuzigung“- in diesem Fall die Abreise des Fremden – folgen nicht Vergebung der Sünden und  Wiederauferstehung sondern Sodom und Gomorra.

Und er weidet mich auf grüner Aue und führet mich zum frischen Wasser, er erquicket meine Seele (…)
(Psalm 23)

 Sexualität als Erlösung? Vorübergehend, ja. Die Vereinigung mit dem Besucher stellt für jedes Familienmitglied einen Ausbruch aus dem eigenen, faden, „schön bürgerlichen“ Leben dar. Das Ehepaar hat sich nichts mehr zu sagen. Die Mutter Lucia ist eine der ersten, die sich um die Gunst des Fremden bemüht, gegenüber ihrem Mann gibt sie sich frigid. Allen ist gemein, das sie sich für ihr plötzliches, unstillbares Verlangen schämen- eine Scham, die ihr Besucher ihnen stets nimmt. Schweigend und gütig, beschwichtigend lächelnd stillt er das Verlangen seiner Gastgeber.

Dem Geschlechtsakt kommt jedoch nur eine katalysierende Funktion zu- er ist nur Begleiterscheinung einer Entwicklung, die die Beteiligten gleichermaßen herbeisehnen wie fürchten-  und daher von ihrer Seite ein verzweifelter Versuch, sich Gewissheit über die eigene Existenz und ihre Bedeutung zu verschaffen.
Hervorzuheben ist aber dennoch die Direktheit, mit der Pasolini unmissverständliche erotische Symbole einsetzt um sein Publikum in die Geschichte einzuführen und an dem Begehren der Familie teilhaben zu lassen. Exemplarisch hier schon eine frühe Sequenz, in der Emilia - Anna Betti bewährt sich als hässliches Entlein – den Fremden auf einem Liegestuhl im Garten antrifft und ihn lüstern und mit zunehmender Verzweiflung beobachtet- und dabei einen Rasenmäher vor sich her schiebt. Wenige Augenblicke später versucht sie, sich in der Küche zu vergasen. Die rettende Hand gehört dem Fremden.

Du sollst nicht töten
(6. Gebot)

Seine Gegenwart hat geradezu pubertäre Reaktionen zur Folge: Die Haushälterin macht sich vor ihrem Spiegel zurecht wie ein aufgeregter Backfisch, Lucia und Odetta balzen unverhohlen, Pietro nähert sich schüchtern und verlegen, einem Schuljungen gleich. Die Sehnsüchte der Fünf reichen weit über die körperliche Befriedigung hinaus. Die beiden Kinder suchen in ihm zugleich eine Vaterfigur, suchen an seiner Schulter Geborgenheit, blicken in naiver Verehrung zu ihm auf.

 Lasset die Kinder, und wehret ihnen nicht, zu mir kommen; denn sie solchen gehört das Reich der Himmel.
(Matthäus 19, 14)

 Die beiden Eheleute hingegen suchen den jeweils anderen und Emilia nach der Liebe, die sie offenbar Zeit ihres Lebens nicht erfahren hat. Auch wenn dieser Fakt im Film eher sekundär ist – die Mitglieder dieses Haushaltes leben voneinander isoliert, sind einander kaum gegenwärtig. Wärme und Liebe sind hier ebenso abwesend wie sinnvolle Ideale. In der Person des Fremden bündelt sich all das, was diese Menschen offenbar lange missen mussten.

Legt den alten Menschen ab, der sich mit seinen eigensüchtigen Wünschen selbst betrügt. Sie bringen ihm in Wirklichkeit nichts als den Tod
(Epheser 4, 22)

 
Wenn wir unsere Schuld eingestehen, dürfen wir uns darauf verlassen, dass Gott Wort hält: Er wird uns dann unsere Verfehlungen vergeben und alle Schuld von uns nehmen, die wir auf uns geladen haben.
(1. Johannes, 1,8)


Die Befreiung aus diesem emotionalen Vakuum, die Erfüllung ihrer Sehnsüchte wird scheinbar nach ihren eigenen Vorstellungen vollzogen. Und dabei reflektieren sie sich selbst in den blauen Augen des schweig- und genügsamen Fremden der sich ihnen zum Untertan macht- und dem sie durch ihre Abhängigkeit selbst zum Untertan werden. Der indirekte Blick in die eigene, verweste Seele und die Unfähigkeit, die eigenen (vornehmlich materiellen und moralischen) Werte in Frage zu stellen, sind unerträglich. Orientierungslos und verwirrt bleibt die Familie nach der letzten, vergebenden Salbung des Besuchers zurück. Jeder von ihnen hat sich ihm vor seiner Abreise offenbart und jedem hat er ein letztes Mal mildtätig Trost gespendet.

 Es wird kommen der grausame, schreckliche Tag des Herrn und die Erde wird vergehen

 Der letzte Zusammenhalt ist nunmehr dahin, die Familie bricht auseinander. Odetta verweigert sich ihrem imaginären Spiegelbild und verfällt auf ihrem Kinderbett in eine repressive Starre- Angst vor dem Leben, Erwachsenwerden oder nur der Einsamkeit? Pietro fühlt sich plötzlich zur Malerei berufen und kreiert unter subversiven, rebellischen Parolen konfuse Schmierereien. Er verlässt wie aus Prostest das Elternhaus und gibt sich seiner „Kunst“ hin. Emilia reist in ihr Heimatdorf zurück, wo sie meditierend auf einer Bank sitzt – bis sie beginnt, Krankheiten zu heilen und in der Luft zu schweben. Die Dorfbewohner verehren sie als Heilige. Interessant ist hier, das Pasolini ihre Entwicklung minimal von den Vorgängen in der Familie abgrenzt: Emilia entstammt dem „Subproletariat“, aus einer bäuerlichen Familie und ist nur teilweise von den Idealen ihrer Arbeitgeber infiltriert worden. Folglich gelingt es ihr allein die Konstruktion einer neuen (religiösen) Illusion die an Perfektion die Manierismen der Familienmitglieder übertrifft. Sie hat, wenn man so will, den Bruch erfolgreich verdrängt.
Lucia liest auf der Straße wahllos junge Männer auf (u. a. den jungen Carlo de Mejo!) und sucht in nymphomanisch ausgelebter Sexualität ihr Heil. Mit einem der Männer schläft sie in einem Graben vor einer Kirche- um später zurückzukehren und unsicher auf den Altar zuzuwanken.

Dich hat verleitet das Glück, die Ruhe vor dem Rachen der Not, da keine Bedrängnis dich erschreckte, dein Tisch reich besetzt war.
(Hiob 36, 16)

Jeder versucht, das Unbegreifliche, die Farblosigkeit der eigenen Existenz auf einem individuellen Weg zu überspielen der radikal mit ihrem bisherigen Alltag und ihren Werten bricht. Den Augenblick der Erkenntnis, dass diese absurden Ersatzbefriedigungen für eine erfolgreiche Repression nicht ausreichen, markiert ein markerschütternder, verzweifelter Schrei.

Denn dein ist das Reich, die Kraft und Herrlichkeit, in Ewigkeit. Ende


Das Pasolini sich mit dieser großbürgerlichen Familie auch als Objekt der Gesellschaftskritik beschäftigt ist offensichtlich. Nicht umsonst ist hier all das abstinent was er sich für eine gesunde Gesellschaft erhofft hat: Menschlichkeit, Ursprünglichkeit und Freude an den natürlichen, „kostenlosen“ Lichtblicken des Lebens. Wenn der Vater seine Fabrik an die Arbeiter übergibt und sich inmitten einer Menschenmenge im Bahnhofsgebäude von Mailand seiner Kleidung entledigt und nackt durch eine  vulkanische Wüste wandelt lässt er all seine einstigen Ideale hinter sich, entscheidet sich für ein archaisches, spartanisches Leben ohne jegliche Annehmlichkeiten und Zuversicht. In blinder Verzweiflung stößt auch er einen unmenschlichen Schrei aus- der den Film beendet. Die Erlösung und Vergebung ist fern- weil der Mensch sich selbst und seiner Natur fremd geworden ist.

Wie im Kino, so auch auf Erden


„Teorema“ ist einer von Pasolinis zugänglichsten und zugleich schwierigsten Filmen. Das vollständige Gefüge entzieht sich einer angemessenen Beschreibung, die vermutlich nur ein seitenlanger Essay liefern könnte. Ich habe hiermit meine Schuldigkeit getan, dieses großartige, reiche Werk zumindest grob zu umreißen. „Teorema“ kann mit seiner filmischen Perfektion, seiner Wahrheit und Vielschichtigkeit glücklich machen und einen starken Eindruck hinterlassen. Einer jener seltenen Filme, den man immer wieder und wieder sehen möchte, um ihn und seine Gedanken so weit wie möglich aufzunehmen, sich an seiner kinematografischen Vollkommenheit, der  zu erfreuen und den verschiedenen Ebenen, auf denen der Regisseur operiert, nachzuspüren. Dem intensiven Spiel eines großartigen Darstellerensembles beizuwohnen und über den unheimlichen, schwerelosen Genuss zu staunen, den dieser an existentiellen Thesen im Grunde reiche Film bereitet.

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