Das wahre psychologische Grauen leitet sich immer aus dem Normalen ab. Fragt man, was Angst ist, so wird man sehen, wie sich dieses Phänomen so gut wie immer auf das gegebene Umfeld bezieht, auf die eigene reale Situation und das bewusste oder unbewusste Abwägen der nahen Zukunft. Angst ist ein warnendes Gefühl, ein Schutzmechanismus vor dem unbekannten Schmerzlichen, das sich andeutet, bald womöglich über einen einzubrechen. Es kann eine schützende Reaktion auf nahende körperliche Gefahr sein, wenn eine physische Beeinträchtigung des körperlichen Zustandes zu befürchten ist, wie etwa die Angst vor einem Gewitter, vor Geräuschen in der düsteren Wohnung oder in dunklen Gassen; es kann aber auch, und dies ist im Gegensatz zur ersteren Kategorie dem Menschen stärker zu eigen als dem Tier, eine vorbeugende Maßnahme sein, das Gehirn auf einen bevorstehenden psychischen Schock vorzubereiten - auf ein Leid, das die eigene soziale Position verändern könnte. Etwa, wenn ein Elternpaar sein Kind durch einen Unfall verliert.
Angst ist demzufolge eine Art Vorahnung auf ein zukünftiges Ereignis, vom Prinzip her einer Prophezeiung also gar nicht unähnlich. Sie erfolgt nämlich nicht durch ein Leid der Gegenwart oder der Vergangenheit - letzteres wäre die Trauer - sondern durch ein erwartetes Leid der Zukunft. Die Entstehung von Angst ist wissenschaftlich nachweisbar - nimmt man die Angstsensitivität, also die generelle Empfänglichkeit eines Individuums für diesen Stresszustand aus der Gleichung heraus, so ist die Angstentstehung in einer speziellen Situation oft anhand bestimmter Kriterien festzumachen. Akustische oder visuelle Reize können es sein, logische Schlüsse aus der Situation heraus aber auch. Sind diese Kriterien mal nicht nachweisbar und ein Mensch ist ohne besondere Anzeichen in der Lage, Gefahr aufzuspüren, so nennt man diese Gabe (oder diesen Fluch) im Volksmund das “Dritte Auge” - ein mit der Disziplin der Mantik verbundenes Moment der Fähigkeit, Unheil vorhersagen zu können.
Ein natürlicher, dem Menschen angeborener, physisch wie psychisch nachweisbarer Warnzustand kann also auf diese Weise logisch mit der Wahrsagerei verknüpft werden, die man doch ziemlich sicher als übernatürlich einstufen würde. Das Grauen des Übernatürlichen ergibt sich aus dem Normalen - auf diese Weise setzt Nicolas Roeg die Vorlage von Daphne Du Maurier (u.a. Hitchcocks spätere Verfilmungen “Rebecca” und “Die Vögel”) zu einer meisterhaften filmischen Umsetzung des psychologischen Horrors zusammen. “Wenn die Gondeln Trauer tragen” ist ein schlichtes Mosaik des auf seine Basis zurückgeführten Surrealismus.
So lässt sich Roeg ob der sich ihm bietenden visuellen und narrativen Möglichkeiten niemals dazu verführen, einen spürbar übernatürlichen Thriller zu konzipieren. Zu sehen sind ganz im Gegenteil unverfälschte Eindrücke von einer bis aufs Blut ambivalenten Stadt. Venedig, es atmet wie ein biologischer Organismus und bietet wie ein solcher seine Licht- und Schattenseiten, Prunk und Faszination, Konzeption und Konstruktion neben Abwässern, Dreck, dunklen Gassen und Schmutz. Der Wechsel erfolgt nahtlos und erschreckend schnell, wie Roeg in zwei Nachtszenen eindringlich veranschaulicht, als das Ehepaar Laura und John Baxter (Julie Christie und Donald Sutherland) sich in Sekundenbruchteilen von der warmen Umarmung der Menschenmassen in ein Labyrinth der Fremdartigkeit verirrt, das einer verwaisten Kanalisation gleicht. Die Optik ist trist und schlicht; wer mal Venedig besucht hat, wird feststellen, dass Roeg es ziemlich authentisch einfängt. Der Prunk lässt sich nur im Detail finden, in der einzigartigen Architektur mitsamt seiner flüssigen Straßen; der Gesamteindruck ist grau auf grau, Einsamkeit und Abtrennung. Viele Kirchen, Stätten der Ruhe und Besonnenheit, die Seufzerbrücke ausgerechnet als ein verbindendes Element vom architektonischen Standpunkt aus gesehen, in seiner wirklichen Funktion als eine Art “letzte Meile”, als ein letzter Atemzug der Freiheit für zukünftige Sträflinge aber eher isolierend. Die Architektur der Stadt hat einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Wirkung von Roegs Werk, und Roeg setzt sie in jeder Szene mit Bedacht ein, wählt sorgfältig Drehorte und Einstellungen, um Venedig nicht nur atmosphärisch zum eigenen Akteur zu machen, sondern ihm auch noch entscheidende Handlungsmomente zuzugestehen, es aktiv in den Verlauf eingreifen zu lassen.
Die Tristesse des Ganzen ohne auch nur den Ansatz stilistischer Bildmanipulation hilft dabei, dem Zuschauer die Basis der Normalität zuzusichern, ist doch schließlich auch die Geschichte letztendlich frei von übernatürlichen Phänomenen; Dass John Baxter das “Dritte Auge” hat, ist nichts als eine Behauptung der beiden alten Frauen, die man wie alle anderen Venezianer im kompletten Verlauf bis zur Schlusswende nie wirklich abschätzen kann und deren wahre Absichten bis dahin vollkommen verborgen bleiben. Denn im Grunde geht es um den Verlust der eigenen Tochter, ein schreckliches, aber mögliches Ereignis, das als Filmeinstieg inszeniert wird. Es muss also auch um die Bewältigung der Trauer gehen, wobei die Trauer eigentlich erst mit der Schlusspointe Einzug hält. Bis dahin läuft die Geschichte nur unter dem Deckmantel der Trauer ab in dem Schein, dass sich alles auf die Anfangsszene bezieht. Tatsächlich wird aber ein latentes Gefühl der Angst suggeriert, einer Angst vor etwas, das noch bevorsteht. Klug wird mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gespielt, Bewusstseinsebenen falten sich übereinander, ohne dass die Handlung als solche zeitlich oder strukturell alineare Züge annehmen würde.
Dennoch fallen verstärkt Stilmittel auf, die Roeg benutzt, um Sutherlands Figur und mit Abstrichen auch Julie Christies dem Zuschauer als Identifikationsfigur näherzubringen und im Umkehreffekt alle anderen Figuren von ihm zu entfremden. Das geschieht beispielsweise durch kurz eingeworfene Egoperspektiven oder sehr kurzschnittige Flashbacks bereits zurückliegender Szenen, die veranschaulichen sollen, wie gerade das Gehirn der Hauptdarsteller arbeitet. Bei Lauras Schwächeanfall erleben wir ihre Sicht auf den Sturz mit, und als die tote Frau aus dem Wasser geborgen wird, benutzt Roeg wie später David Fincher in “Sieben” und Fight Club” kurze, von der aktuellen Szenerie unbeeinflusste Szenenschnitte ein, die zeigen, was John Baxter gerade empfindet. Jedoch entfremden derartige Schnittfolgen und Bildmontagen nie das Gezeigte, sondern stellen es authentisch dar. Schattengestalten in Fenstern einer venezianischen Seitengasse werden nicht durch Ausleuchtung in den Mittelpunkt gehoben, sie ergeben sich beiläufig im Sichtfeld Sutherlands.
Eine erstaunlicherweise erst spontan beigefügte Szene stellt diesbezüglich in der Filmmitte den Höhepunkt in einer atypischen Montage dar, als ein Sexakt zwischen Sutherland und Christie in all ihren Stadien mit dem Fertigmachen zum Ausgehen verschnitten wird und damit auf einer profanen, gewöhnlichen Ebene das Paar, das später getrennt werden soll, geistig und vor allem körperlich miteinander verbindet - eine körperliche Nähe, die Sutherlands Charakter später fehlen wird, so dass er in die Isolation abdriftet.
Hierbei verbaut sich Roeg seine sorgfältig aufgebaute Narration nicht durch mechanische Schocks, sondern entscheidet sich vielmehr für eine Art Drama, das allerdings unheimlich spröde wäre, würde man es wirklich als Drama betrachten. Handlungstechnisch passiert nicht viel, und während das Drama von Handlungswenden und emotionalen Umschwüngen lebt, bietet Roeg davon kaum etwas. John Baxter begleiten wir eher bei seiner Arbeit, in seiner privaten Umgebung, in Belanglosigkeiten. Zumal für den Thriller die Spannung fehlt und für den Horror der Horror, enttäuscht der Film als Genrefilm in allen Belangen. Betrachtet man hingegen alles als Auseinandersetzung mit der Angst, so entfaltet er seine Qualitäten als durchgedachter Konzeptfilm, der an manchen Stellen möglicherweise nicht immer straff genug ist, als Gesamtwerk jedoch nahezu perfekt erscheint. Mit der atmosphärisch herausragenden finalen Begegnung entfalten sich darüber hinaus unermüdliche Interpretationsansätze, als deutlich wird, dass die Gondeln erst im Abspann wirklich Trauer tragen und keine Minute vorher - wenigstens der Definition von “Angst” zufolge.
Der Regisseur konnte glücklicherweise auf einen Cast zurückgreifen, der nicht enttäuscht; Donald Sutherland war vielleicht nie engagierter als hier und traf wohl nur selten die Beweggründe seiner Figur besser. Julie Christie spielt unscheinbar zu Beginn, um dann an Präsenz zu gewinnen, schließlich durch Momente wie den Ohnmachtsanfall oder die Sexszene mit dem Zuschauer eins zu werden, ihm aber doch immer wieder entweicht, wie vor allem in der quälend langen Zeit ihrer Abwesenheit. Alle Antagonisten wirken wie gewöhnliche Menschen, die ganz normal ihren Motiven nachgehen, doch in Details zeichnet sich bei ihnen allen eine Fremdartigkeit ab - ob der Polizist die Fragen an John nun so betont, dass es sich fast anhört, als stünde er unter Verdacht, oder auch der Hotelbesitzer, der gerade sein Hotel für die Winterzeit schließt, was fast wie eine Abweisung wirkt.
Nicolas Roeg kann von sich behaupten, einen cineastischen Meilenstein entworfen zu haben, der in seiner surrealen, aber doch profanen Bildsprache viele Regisseure unserer Zeit inspiriert hat. Speziell M. Night Shyamalan zeigte sich offensichtlich beeindruckt von Plotstruktur und Farbsymbolik, griff er doch zumindest einige dieser Aspekte verstärkt wieder in seinen Filmen auf. Technisch ebenso bedächtig wie perfekt, schlängelt sich das Werk 100 Minuten lang zwischen allen Genres, um mit Konventionen zu brechen und neue Konventionen einzuführen. Dabei entfaltet sich ungeachtet leichter Straffungsmöglichkeiten ein rundum gelungenes Spiel mit der Angst, das mit dem verstörenden Ende auch freudig zu Interpretationen einlädt. “Wenn die Gondeln Trauer tragen” ist ein kleines Meisterwerk, wenn man dazu willens ist, Genre-Erwartungen außen vor zu lassen.