Stumm und blind auf Madeiratlantis
„Für die Lust, die sie erzeugen, lohnt es sich vielleicht, zu sterben!“
Als der umtriebige spanische Vielfilmer Jess Franco („Die Säge des Todes“) seiner späteren Muse und Ehefrau Lina Romay begegnete, traf ein Voyeur auf eine Exhibitionistin, was den Beginn einer sehr langen und fruchtbaren filmischen Zusammenarbeit bedeutete. Erstmals stand Romay für Franco 1972 in „Eine Jungfrau in den Krallen von Frankenstein“ vor der Kamera, ein Jahr später be- bzw. vielmehr entkleidete sie die Hauptrolle in Francos „Entfesselte Begierde“, einem Sexfilm mit Vampirhorror-Anleihen.
Die stumme Gräfin Irina Karlstein ist die letzte Verbliebene ihres Geschlechts, einer Vampirin aus Atlantis, auf dessen oberirdischen Rest, der Ferieninsel Madeira, sie residiert. Um weiter auf Erden wandeln zu können, benötigt sie nicht nur das Blut ihrer Opfer, sondern auch deren Ausscheidungen beim Empfinden höchster Lust. Dass ihre Liebesgespielen und -gespielinnen dabei stets das Zeitliche segnen, trägt dazu bei, dass Irina ein Dasein in Einsamkeit führt, dessen sie immer überdrüssiger wird…
„Der Mann wurde durch einen Mund getötet.“
Die Romay läuft oben ohne, nur mit einem schwarzen Umhang, einem Gürtel und Stiefeln bekleidet, zu schwelgerischem Klaviergeklimper durch den Wald, die Kamera scheint ihren Körper regelrecht abzutasten (tatsächlich kommt es sogar zu einer Berührung). Beim Autofahren – einer im Laufe des Films immer wieder verwendeten Szene – erklärt sie sich aus dem Off, Jack Taylor („Die Jungfrau und die Peitsche“) als atlantisforschender Baron von Rathony tut es ihr während der Körperhygiene vorm Spiegel gleich. Überhaupt wird in „Entfesselte Begierde“ verdammt viel aus dem Off sinniert, schließlich ist die Gräfin stumm – ebenso übrigens wie ihr Diener (Luis Barboo, „Reise zur Insel des Grauens“). Franco höchstpersönlich tritt als Gerichtsmediziner Dr. Roberto auf, der schnell die These parat hat, Vampirismus wäre für das Ableben der Person verantwortlich, deren Leichnam er gerade oberflächlich untersucht. Er kontaktiert den blinden Professor Orloff (Jean-Pierre Bouxyou, „Foltermühle der gefangenen Frauen“), der neben einer offenbar rein dekorativen Brille ein paar Mörderkoteletten im Antlitz spazieren trägt (ok, Bartstutzen mit Sehbehinderung ist eine besondere Herausforderung), in diesen Fällen, da dieser irgendetwas über ähnliche Phänomene geschrieben habe.
„Sie sollten sich schnellstens mit übersinnlichen Dingen beschäftigen!“
Doch zurück zu Gräfin Irina, denn diese drei Kerle sind lediglich Beiwerk und Stichwortgeber ihrer Schau: Minutenlang räkelt sie sich nackt auf dem Bett und lässt sich dabei beobachten, leckt am Bettpfosten und masturbiert an ihm – und laugt ihre Opfer in ausgiebigen Softsex-Szenen sexuell komplett aus, beispielsweise die Journalistin, die zum Interview (wir erinnern uns, die Gräfin ist stumm…) gleich mal im Bikini erscheint, oder die S/M-Domina, von der sie sich zuvor hat auspeitschen lassen, aber die Szene in einen lesbischen Dreier mit der Studiochefin kehrt – sie verfügt nämlich über die Gabe, Menschen telepathisch zu manipulieren. Der blinde Professor Orloff betatscht die Domina schließlich ausgiebig, als sie auf Dr. Robertos Tisch gelandet ist und „ertastet“, dass ihr die Eierstöcke entfernt wurden…
Eine tragische, fatalistische Note verleiht Franco der Handlung, als sich Irina in den poetisch angehauchten, von einer gewissen Schwermut geplagten Baron verliebt, ihn aufgrund ihrer unkontrollierbaren Triebhaftigkeit jedoch ebenfalls töten muss. Daraufhin trifft sie einen folgeschweren Entschluss: Sie ertränkt sich in einem Blut-Wasser-Gemisch. Dr. Roberto ist ihr längst auf den Fersen, dringt in ihr Schloss ein, tötet ihren Diener und hält ob ihres Anblicks inne – ihr Tod wird dem Zuschauer dadurch versinnbildlicht, dass sie schließlich in den Wald zurückgeht, aus dem sie eingangs kam.
Franco versuchte augenscheinlich, mit einem arg knappen Budget einen künstlerischen Film mit verträumter, melancholischer, schwermütiger Atmosphäre zu schaffen und dem begehrenswerten jungen Körper seiner Lina ein filmisches Denkmal zu setzen. Versteht man „Entfesselte Begierde“ als Liebeserklärung an Lina Romay, wirkt er nicht nur plötzlich auf eine ganz eigene, irgendwie einnehmende Weise romantisch und liebenswürdig, sondern ist man auch eher bereit, die vielen Schwächen des Films zu verzeihen. Der Verquickung des Vampir-Mythos (der Name Karlstein ist unschwer erkennbar inspiriert von den Vampirlesbierinnen der „Hammer Productions“) mit dem der versunkenen Stadt Atlantis macht nämlich nicht viel her und bei den Dialogen haben sich einige unfreiwillige Schenkelklopfer eingeschlichen, zudem wirken die poetischen und philosophischen Momente häufig bemüht bedeutungsschwanger und die Handlung derart spontan dahingeschludert, dass sie nicht nur wenig Sinn ergibt, sondern auch ihre Funktion als reine Staffage eines Softsex-Films kaum zu verbergen mag.
Die Hingabe, mit der Franco seine Lina bespannt, ist hingegen nicht zu übersehen, ebenso wenig die Leidenschaft, mit der sie es geschehen lässt und sich lustvoll vor der Kamera räkelt, was sogar zu einer echten Masturbationsszene auf einem ihrer Opfer führt, die nicht durch die furchtbar unästhetischen HC-Inserts der Langfassung mit Pornodarstellern eingefügt wurde. Die Stimmung des Films ist durchaus düster und morbide, Franco gelang es, das sonnige Madeira entsprechend in Szene zu setzen, wenngleich dieser Effekt immer mal wieder durch die eher unpassende musikalische Untermalung Daniel Whites torpediert wird.
Fazit: Für Lina-Romay-Fans unverzichtbar, als Geschenk Francos an Lina von rührender persönlicher Bedeutung wie „etwas Selbstgebasteltes“, für Uneingeweihte jedoch sicherlich schwer genießbar – wer mit Franco dann und wann etwas anfangen kann, dürfte hier aber einen durchschnittlich unterhaltsamen Erotikfilm vorfinden, der wacker gegen alle Unzulänglichkeit anzuästhetisieren versucht und den irgendwie liebgewonnenen experimentellen, spontanen, impulsiven und organischen, unperfekten Charakter seines Schöpfers aus jedem Filmkorn stöhnt.