Bei aller Liebe zum Subgenre kommt man doch regelmäßig zu dem Schluss, das es viel zuwenige wirklich gute Gothic-Horrorfilme gibt. Gut im Sinne von wirklich unheimlich. Man sollte meinen, dass bei unsagbar Bösem, dass in den endlosen, dunklen Korridoren alter Gemäuer lauert, es mit ein wenig Gespür für den Effekt ein leichtes sein sollte, dem Zuschauer die Nackenhaare aufzustellen und den wohligen, dezent mystischen Schauer zu erzeugen, den man mit etwas Vorstellungskraft bei dem Besuch solcher Örtlichkeiten selbst verspurt. Wahrscheinlich handelt es sich hierbei wohl doch um eine Königsdisziplin, denn Atmosphäre, Stimmung, Flair, das bekommt man in Gothic-Horrorfilmen, ob Hammer, Bava, Corman oder Rollin, zuhauf. Aber Angst, die echte, die einen so richtig packt oder auch nur unerträgliche Unruhe, das nur selten, bei allem schaurigen Potential des Sujets. Und man zerbricht sich den Kopf darüber, ob die popkulturelle Aufklärung über Genre-Klischees und all das uns Jüngeren das Gruseln über Dracula & Co. nicht einfach verdorben hat.
LA RESIDENCIA ist sein guter Ruf als absoluter Über-Klassiker des spanischen Horrorkinos natürlich vorausgeeilt und angegangen bin ich seine Sichtung mit einem ganzen Korb voller Erwartungen, die größtenteils neben dem Film lagen und mir so manches „Aha-Erlebnis“ bescherten. Abgesehen vielleicht von der vielfach beschworenen visuellen Opulenz, die tatsächlich erwartungsgemäß in echter Monumentalfilm-Tradition - Kameramann war Manuel Berenguer, der zuvor unter anderem auch an Nicholas Rays Passions-Epos KING OF KINGS arbeitete - die beinahe komplett in den Innenräumen des Internates spielende Handlung in unendlich breit über den Scope-Bildausschnitt verteilten Mini-Panoramen Gestalt annimmt.
Ansonsten funktioniert LA RESIDENCIA als Horrorfilm so ähnlich wie ROSEMARY’S BABY: Ein immerwährendes Gefühl extremen Unbehagens und Mysteriösität - hier im Gegensatz zu Polanskis Meisterwerk und Messlatte allerdings gelegentlich durchbrochen von einigen extrem harschen Mobbing-Terrorszenen unter den Schülerinnen – dass sich im Finale in purem Horror, kalter Angst und fassungslosem Entsetzen entlädt. Zumindest mir stockte der Atem – was sicherlich auch nicht zuletzt dadurch möglich war, dass Narciso Ibanez Serrador sehr ehrlich einen anspruchsvollen Genre-Film inszenieren wollte, das zeigt, und nicht einen anspruchsvollen Film X mit Genre-Elementen. Eine ungewöhnlich verkopfte Rezeptionshaltung, in der Regel der Tod jedes Gefühls von impulsiv empfundenem Horror im Sinne des Genres, wurde somit erfolgreich unterbunden, ohne dass der Film dabei nicht einen angenehm intellektuellen, konstant ambivalenten Nachgeschmack im moralischen Geist von Edgar Allan Poe hinterlassen hätte.
Im wesentlichen gründet sich die Effizienz von LA RESIDENCIA eindeutig auf der Inszenierung, was erstaunlich ist, weil der Film sich offensichtlich um ausgefeilte Charaktere, um die man bangen kann, bemüht und sich durch seine elegante, getragene Gangart und Form sowie die Abwesenheit des für diese Zeit typischen, zaghaften Sleaze merklich vom sich damals zur Invasion der Leinwände aufschwingendem Exploitation- und B-Horrorkino abheben möchte. Der ganz große Effekt – und bei allen stimulierenden Verästelungen des Drehbuchs ist er es doch, der mich am meisten erstaunt – wird von Kamera, Licht und vor allem auch Schnitt und dem von aufgeregtem Verkrampfen der Glieder gefolgten Einsatz der formidablen musikalischen Illustration. Und es sind auch die effektvollen Momente, in denen der Film besonders souverän wirkt (ansonsten fühlte ich mich paradoxerweise ständig an Fred Wilcox’ wunderbare stimmungsvoll-melodramatische Burnett-Verfilmung THE SECRET GARDEN erinnert), weil das Horrorszenen sind, die zwar Assoziationen zu THE HAUNTING und THE INNOCENTS, den beiden Musterfilmen der Gattung wecken, aber nie Vergleiche. Es wird in schönem Einverständnis mit dem Zuschauer dessen Erwartungshaltung zuvorkommend befriedigt und nur gelegentlich wird sie behutsam gebrochen, nominell in den beiden grossen Mordszenen des Films. Das erinnert dann wiederum ein wenig an Robert Aldrich und seine bravourösen Gratwanderungen zwischen reißerischem Schockeffekt und nervenaufreibenden Dialogszenen. Und immer wieder schweift das assoziative Gedankennetz zu Dario Argentos SUSPIRIA, dessen traumwandlerischer Surrealismus im direkten Vergleich mit der legitimen weil gekonnten Ökonomie von LA RESIDENCIA noch mal so gut zur Geltung kommen.
Viel Gerede mit wenig Inhalt (der pure physische Genuss eines Genre-Films steht bei Erstsichtungen oft dem geistigen Genuss im Wege), daher schließe ich hier mit dem Resümee, dass LA RESIDENCIA in der Tat das vielgelobte Schmuckstück des Horrorfilms von Klasse ist, das aber seinen Suspense und seinen Horror wie kleine Kostbarkeiten einrahmt und sorgfältig vorbereitet indem er seinen Zuschauer jovial an der Hand nimmt und durch das düstere, alte Herrenhaus führt mit großer, aber selbstbewusster Geste und ihn immer in genau den richtigen Momenten kurz, aber heftig in den Arm zwickt. Mit dem wohligen Effekt des Nachgeschmacks echten Gruselns, Nägelkauens und Atem-Anhaltens beim Sehen eines Horrorfilms verhält es sich vermutlich ähnlich wie mit dem Gefühl des Verliebtseins: Er muss selten und schwer zu erzielen sein, sonst würde er seine Exklusivität und seine denkwürdigen Qualitäten verlieren. Und deswegen kann es wahrscheinlich auch nur wenige Filme geben, die das erreichen. LA RESIDENCIA ist, in meinem Fall, einer davon.