Dass Hitchcocks Adaption einer Kurzgeschichte von Daphne du Maurier primär als ein Horrorthriller angesehen wird, ist eines der größten Missverständnisse der Filmgeschichte, welches es zu beseitigen gilt!
Zwar funktioniert er mit seiner inhärenten Situation der Bedrohung von Außen nach einigen Schemata dieses Genres, doch sind es die Bedrohung und die Kräfte von innen, die bei Die Vögel überwiegen. Dieser Dualismus setzt sich fort, wenn man sich Hitchcocks Ausführungen zu seinem eigenen Film anschaut. „Dies ist der vielleicht unheimlichste Film, den ich jemals gemacht habe", sagt er rückblickend ebenso wie „Dieses Mal habe ich jedoch eine ernste Absicht hinter dem Vergnügen versteckt. Denn gleich unter der oberflächlichen Spannung und dem Grauen von ‚Die Vögel' verbirgt sich eine schreckliche Bedeutung. Wenn Sie diese erkennen, werden Sie den Film doppelt genießen.".
Es gilt in der Filmtheorie als unumstritten, dass Hitchcocks Filme, seien es nun beispielsweise Psycho, Vertigo oder Die Vögel, zwar vordergründig hoch spannende Thriller sind, aber darüber hinaus psychoanalytische Theorien beinhalten und vortragen. Doch galten in den 60er Jahren diese Konzepte von unbewussten Prozessen und Konflikten der Persönlichkeitsstruktur wie dem Ödipuskomplex und das Drei-Instanzen-Modell noch als modern, wurden sie später von kognitivistischen Erkenntnissen abgelöst, in denen Menschen aufgrund ihrer Erfahrungen handeln. Doch was in Psycho oder Vertigo aufgrund der Bedrohung, die vom Menschen selbst ausgeht, funktionierte, kann in Die Vögel aufgrund der Fremdheit und letztendlich Unerklärtheit der Bedrohung von außen nicht überzeugen. Woher die Vögel kommen und warum sie die Bewohner von Bodega Bay terrorisieren, bleibt zunächst einmal ungeklärt. (Eine Interpretation wird noch folgen.)
In Die Vögel werden nun gleich zu Beginn jene beiden Hauptfiguren vorgestellt, die mit ihrem Trieb ebenso hadern wie mit sich selbst im Sinne klassischer screwball comedies. Eine umtriebige, kokette junge Frau namens Melanie (dargestellt von Tippi Hedren) trifft in der Vogel-Abteilung einer Tierhandlung auf den schneidigen Anwalt Mitch (dargestellt von Rod Taylor), worauf sich eine beinahe schon lächerlich belanglose, aber ebenso kurz abgehandelte von Romantikkomödien scheinbar inspirierte Klischeehandlung entwickelt, indem sie ihm von San Francisco aus ins pittoreske küstenahe Städtchen Bodega Bay nachfährt, um ihn vordergründig zu ärgern, doch weiterführend sein Interesse zu wecken und unbewusst ihre niemals offen zur Schau getragene Libido zu befriedigen. Selbiges wird zuvor schon in der Tierhandlung mit ornithologischer Analogie angedeutet, als von in Käfigen eingesperrten Sperlingspapageien (die auch „Liebesvögel" genannt werden) die Rede ist. Der Käfig lässt sich dabei als die Einschränkung und Separation der Libido von Melanie und Mitch deuten, die ebenso wie die einzelnen Tierarten für sich nebeneinander existieren mit ihren eigenen Traumata - ohne miteinander in Berührung zu kommen. Zumindest vorläufig.
Melanie hat seit jeher ein zielloses Leben geführt und war/ist nicht ohne Grund ein Liebling der Regenbogenpresse. Ihr Vater, ein mächtiger Medienmogul, tritt im Film nur am weit entfernten Telefon und nie in Gestalt auf, ihre Mutter hat sie in ihren Kindstagen verlassen. Seitdem schlägt sie sich durchs Leben, stets versucht, ihre Zeit mit Sinn zu füllen, mit Jobs, die keine wirklichen sind, ihrem Leben jedoch eine Regelmäßigkeit geben fernab jeglicher Peinlichkeit. Doch sie kann ihren Trieb noch so gut verstecken: er bleibt und vergräbt sich im unbewussten und triebhaften Teil ihrer Persönlichkeit, dem „Es". Er bleibt bestehen, wenn sie gleich zu Beginn auf ein Nachpfeifen von der Straße reagiert und lächelt, bevor sie sich in besagte Tierhandlung begibt oder auch im weiteren Verlauf des Films, wenn sie wiederholt ihren Lippenstift parat hält, um mit der Makellosigkeit ihres Aussehens immer wieder unbewusst Mitch zu becircen. Die Betonung und Anerkennung ihrer sexuellen Attraktivität geben ihr Selbstbestätigung, nicht ihre Arbeit. Mitch scheint dies aber zu durchschauen und gegen sie zu instrumentalisieren.
Mitch, dieser adrette, gut trainierte Mann, der schon ein paar machohafte Züge zu viel trägt, um eine Frau wie Melanie gleich um den Finger zu wickeln. Mitchs Vater ist vor einigen Jahren gestorben, er ist erwachsen und trotzdem trägt die Situation, dass er übers Wochenende bei seiner grauhaarigen Mutter Lydia (Jessica Tandy) lebt gewisse ödipale Züge in sich. Seine Mutter will von ihm nicht allein gelassen werden und stets, wenn sich ihr Sohn mit anderen Frauen trifft, die auch nur potenziell mehr werden könnten als nur flüchtige Freunde, verfolgt sie die Verlustangst. Mitch vermag die Autorität seiner Mutter nicht in Frage zu stellen; die Beziehung mit der ortsansässigen Grundschullehrerin Annie (Suzanne Pleshette) ging daran in die Brüche. Seine inzestuöse Mutterliebe scheint stets größer zu sein als das sexuelle Verlangen nach einer Frau „von außen", die diese gewissermaßen harmonische und sichere Beziehung stören könnte.
Bis hierhin scheint Hitchcock mit Die Vögel ein komplexes Figurengeflecht geschaffen zu haben, welches keineswegs eindimensional wirkt. Doch gerade die in den Figuren inhärenten Konflikte, die ausführlich aufgegriffen und dann lange Zeit in unnötigen Dialogen unterschwellig abgehandelt werden, machen ihr Handeln vorhersehbar. Deswegen verliert man an ihnen das Interesse und sehnt endlich die Entspinnung jenes Horrorfilm-Plots herbei, der uns mit dem gleichsam befremdlichen wie bedrohlich anmutenden Vorspann mit Vogelgeräuschen und allerlei umher fliegendem Federvieh versprochen wurde. Doch dies soll noch etwas dauern.
Kurz nach der Ankunft von Melanie in Bodega Bay, als sie Mitchs kleiner Schwester heimlich die Sperlingspapageien vorbei gebracht hat, erreicht die zähe und ebenso belanglose wie unpointierte Geschlechterkampf-Komödie ihren Zenit. Der Angriff einer Möwe auf Melanie liefert Mitch den Vorwand, das ganze Ausmaß der Kompensation seines unbewussten Ödipuskomplexes zu offenbaren, als er mit stets ironisierendem Macho-Gehabe eine manifeste Annäherung gegenüber Melanie versucht, indem er sie zum Abendessen einlädt und somit den Versuch unternimmt, aus dem von seiner Mutter geschaffenen Gefängnis, in dessen Kerker er steckt, auszubrechen. Natürlich hat er mit der Einladung Erfolg, obwohl Melanie ihn in selbigem Gespräch als Rüpel zurückweist. Melanie sehnt sich nach einem Mann wie Mitch, der ihrem Leben mit seiner Autorität, die der stets abwesende, vielbeschäftigte Vater nie über sie ausüben konnte, einen Stempel aufdrückt. Sie akzeptiert seine Männlichkeit, seine Macht, und unterwirft sich dieser passiv - missgünstig beäugt von Mitchs Mutter Lydia. Ihr Blick im Restaurant, als Mitch Melanies Wunden versorgt und sie zum Essen einlädt, spricht Bände.
Aus jeder Pore von Lydias Wesen dringen die Eifersucht und der Neid auf Melanie - einhergehend mit dem drohenden Verlust ihres Sohnes an eine andere Frau. Als ältere Frau mit Angst vor dem Alleinsein, die nach dem Tod ihres Gatten beinahe schon eine Ersatz-Intimbeziehung mit ihrem Sohn aufgebaut hat, sieht Lydia in Melanie eine Bedrohung - genau so wie sie früher in Annie eine sah, die ebenfalls Gefühle für Mitch hegte. Doch diese Beziehung ging in die Brüche. Die Mutter erwies sich zumindest in Bodega Bay als übermächtig und Treffen waren nur noch in San Francisco - also außerhalb des „Machtbereichs" der Mutter - möglich, wurden aber immer seltener.
Annies Leidenschaft für Mitch flammt durch Melanies Anwesenheit, für die sie stets nach Ausflüchten und Vorwänden sucht, um von dem wahren Grund - Begierde - dafür abzulenken, wieder auf. Dies schürt wiederum die Eifersucht von Lydia, welche nun aufgrund der Aufmerksamkeit, die ihr Sohn ihnen und nicht ihr schenkt, eifersüchtig auf beide ist. Mitchs Mutter ist im physischen Sinne ohnmächtig, da alt und gebrechlich, jedoch psychisch umso potenter. Es gibt Interpretationen des Films, welche die Angriffe der Vögel als die Symbolisierung von Lydias entfesselter Eifersucht ansehen, die solange nicht gezügelt werden kann, wie ihre Nebenbuhlerinnen um Mitch nicht „beseitigt" sind. Dies gelingt teilweise, als Annie bei dem Versuch, Mitchs kleine Schwester Cathy (Veronica Cartwright) in ihr Haus zu retten, von den Vögeln getötet wird. Melanie hingegen scheint unverwüstlich. Ihr (Geschlechts-)Trieb scheint jenem von Lydia überlegen, so dass ihr auch das Betreten eines mit Vögeln bevölkerten Wohnzimmers gegen Ende im Haus von Lydia zwar physisch zusetzt, aber psychisch nichts anhaben kann. Sie hat ihre Machtdemonstration gegen Melanie und Mitch verloren, der allein durch sein Geschlecht und seine männliche Aktivität Macht symbolisiert. Er agiert, Melanie reagiert. Melanie liegt in selbiger Szenenfolge ohnmächtig nach dem Angriff am Boden, Mitch muss sie retten und sie ergibt sich so dankbar in die vom Patriarchat zugewiesene passive Rolle. Selbiges deutet sich schon zu Beginn an, als Melanie keinem richtigen Job nachgeht, sich stattdessen gewissermaßen von ihrem Vater abhängig macht, während Mitch seiner Arbeit als Anwalt mit Leib und Seele nachzugehen scheint. Zudem bleibt auch eine eigenwillige Bildfolge im Gedächtnis, als immer wieder auf die in starrer Pose verharrende Melanie im Restaurant zwischengeschnitten wird, während draußen Benzin ausläuft und sich entzündet.
Das Ende hingegen ist zutiefst inkonsequent gemessen an den psychoanalytischen Motiven, die uns bis dahin vor Augen geführt werden. Lydia verliert nicht ihr Leben, was die logische Konsequenz einer Entkräftung durch vorhergehende psychische Überanstrengung und gleichsam Enttäuschung (Mitch entscheidet sich nicht gegen Melanie und Melanie überlebt den schlimmen Angriff) gewesen wäre. Stattdessen präsentiert uns Hitchcock mit dem beängstigenden Motiv eines riesigen Krähenschwarms welcher sich strategisch um das Haus der Brenners positioniert zu haben scheint eine beinahe schon apokalyptisch anmutende Szenerie, die allerdings durch die gleichsam zu reibungslos ablaufende Flucht aus selbiger viel von seiner Beklemmung verliert. Zu diesem Zeitpunkt ist Die Vögel mit seiner Steigerungslogik beginnend bei einer Quasi-screwball comedy über ein in den Dialogen schwächelndes Psychodrama und einem spannendem Horrorthriller (etwa ab dem Zeitpunkt, als sich die Vögel vor der Schule sammeln) beim Klimax des Endzeit-Schockers angekommen. Möglicherweise ist tatsächlich jenes „Ende der Welt" eingetreten, das zuvor ein besoffener Gast des örtlichen Restaurants ob der kursierenden Vogelangriff-Geschichte mehrere Male in einem ebenso ungelenken wie unnötigen Anflug von Humor prophezeit wird. Ob sich Lydias Meinung oder Verhältnis zu Melanie schlussendlich verändert hat, bleibt unthematisiert, wäre aber psychologisch umso interessanter gewesen. Der unausgegorene Eindruck von Hitchcocks Film erhält somit ein weiteres Argument.
Hitchcock ist und bleibt ein Virtuose, was suspense angeht. Das brachte ihn seinem Spitznamen ein. Und auch in Die Vögel geht dieses Konzept auf: Wie er die sich zusammenrottenden Vogelscharen minutiös zeigt, ist große Regiekunst. Auch der Vogelangriff, an dessen Effekten heute jedoch schon sichtbar der Zahn der Zeit genagt hat, wirkt noch beängstigend - besonders weil er dabei auf Musikuntermalung verzichtete und einzig das Krächzen der Tiere zu hören ist. Inszenatorisch ein äußerst wirkungsvolles Mittel! Auf der inhaltlichen Ebene kann sein Film jedoch nicht überzeugen und wirkt wie ein unausgegorener Genre-Mix, der seine zweite Bedeutungsebene am Ende verschenkt. Den psychologischen Konflikten seiner Protagonisten untergeordnet, gerät sein Film zu dialoglastig, einschläfernd und tempoarm, bis er erst in der zweiten Hälfte etwas an Fahrt gewinnt. Ja, vermeintliche Horrorfilme beginnen ganz harmlos und die Spannung beginnt langsam zu wachsen, doch ist mir kein Werk bekannt, dass so unfreiwillig (oder gewollt?) bei seiner eigenen Parodie ansetzt, indem im ersten Viertel des Films Szenen zu finden sind, die man sonst eher aus belanglosen Romantikkomödien kennt. Übrigens ein Eindruck, der sich den gesamten Film über nie legt, denn erst durch den Angriff der Vögel finden Mitch und Melanie zusammen; ihre Angst vor der äußeren Bedrohung führt zur Annäherung. Man könnte wieder den auch hier zutreffenden Spruch anführen: „Was sich liebt, das neckt sich." - sei es auch im Wandel begriffen von Wortduellen über unterschwellige psychologische Sticheleien bis hin zur äußeren Bedrohung, aus denen beide - was absehbar ist - weitgehend unbeschadet hervorgehen. Da können einige beeindruckende Szenen noch bis heute im cineastischen Gedächtnis geblieben sein: Das Werk sollte dennoch hinterfragt werden.
Alles in allem ein Film, dem man noch das Prädikat „gut" geben kann, aber gemessen an Hitchcocks übrigen Werken muss man schlicht und einfach mehr erwarten können. Die Vögel erreicht nur selten jene Plausibilität bezüglich des Handelns in Anbetracht einer (geklärten!) äußeren oder inneren Bedrohung wie sie beispielsweise in Das Fenster zum Hof oder Psycho vorgelebt wurde. Schade drum (6/10).