Shakespeares „The Tempest“ gilt als letztes Stück und damit als eine Art Testament und Selbstzeugnis des Renaissance-Künstlers aus England, in dem er viele Motive seiner zurückliegenden Stücke noch einmal aufgreift und in einer versöhnlichen, märchenhaften Insel-Fantasie zusammenführt. Der Magier Prospero, den man gern in eins mit Shakespeare als schaffenden Genius setzt, scheint die immer wieder anzutreffenden, stets autoreferentiellen Bühnenmetaphern in seinem berühmten Monolog kulminieren zu lassen und die Auffassung von den Möglichkeiten und Grenzen seiner Kunst wiederzugeben:
These our actors,
As I foretold you, were all spirits and
Are melted into air, into thin air … (IV, 1)
Peter Greenaways Adaption des Stoffes macht genau diesen selbstreflexiven Anteil (der freilich erst in der späteren Rezeption auf das Stück zurückprojiziert wurde) zum Dreh- und Angelpunkt eines ganz und gar eigenwilligen Spektakels, das, soll es auch nur annähernd vom Zuschauer nachvollzogen werden, und zwar mit Genuß, mindestens zwei Bedingungen voraussetzt: Vertrautheit mit dem Stücktext und den Hintergründen von „The Tempest“ einerseits und Kenntnis, womöglich auch Wertschätzung der Greenawayschen Filmgrammatik aus den 1980er- und 90er Jahren andererseits. Selbst dann wird sich der ganze Reichtum von „Prospero’s Books“ erst durch mehrfache Sichtung erschließen: Was hier nämlich geschieht, ist die Vereinnahmung von einer Kunstform durch eine andere, eines Künstlers durch einen anderen, und im Zuge dessen die Transformation und Transzendenz der jeweiligen medialen Eigenheiten hin zur Schaffung von etwas Neuem, Aufregendem, zugleich sowohl intellektuell Stimulierendem als auch sinnlich Betörendem.
Greenaway verzichtet fast völlig auf das bloße Abfilmen von Theaterdialogen, indem die Ausgangssituation von Anfang an auf eine Ebene über die der illustrierenden Darstellung gehoben wird: Prospero befindet sich zwar verbannt auf einer Insel, doch er imaginiert ein Theaterstück, das er gleichzeitig aufschreibt; immer wieder wird das gerade Gehörte von einer kratzenden Feder mit kalligraphischem Schwung zu Papier gebracht. Dadurch wird jeder Realismus gründlich ausgetrieben: Niemals ist klar, was auf der Insel tatsächlich geschieht und was nur in Prosperos Einbildung existiert. Gibt es die undurchdringlichen Wälder und Dschungel, die unversehens in weitläufige römische Hallen, Höfe, Treppen und Säulenarchitektur übergehen? Gibt es die unzähligen Inselgeister jedweden Alters und Geschlechts, die halb- oder völlig nackt die Insel bevölkern und in keiner Szene abwesend sind? Und gibt es den dreigestaltigen Ariel, der als Kind, jugendlicher Knabe oder erwachsener Mann gleichzeitig anwesend ist, oder den kriechenden, sich ständig windenden, mit prominentem Geschlechtsteil versehenen Caliban? Sind die Herrscher von Mailand und Neapel in ihren absurden Kostümen wirklich auf der Insel gelandet?
Zum Aufbrechen der Handlungsebenen zieht Greenaway zahlreiche weitere Mittel heran, die zunächst verwirrend erscheinen können, aber einer genau kalkulierten Systematik folgen. Regelmäßig wird die Handlung durch kurze Beschreibungen von Büchern unterbrochen, die sich in Prosperos Besitz befinden und nicht nur Magie, sondern Geschichte, Anatomie, fremde Länder, die Sterne oder mechanische Apparaturen behandeln und sich inhaltlich direkt oder indirekt auf die Handlung beziehen. Rückblenden, etwa wenn Prospero zu Beginn die Geschichte seiner Verbannung erzählt, sind als solche kaum abgesetzt, es verschmilzt das Erzählte mit dem Erzähler. Als aus anderen Greenaway-Filmen vertraut empfindet man gelegentliche streng symmetrische oder gemäldeartige, zitatengespickte Bildkompositionen, lange Kamerafahrten, die ballettartige Choreographien begleiten, abgelöst von rhythmisch geschnittenen Episoden, die mit überquellender Symbolik angefüllt sind.
Das bemerkenswerteste bildkompositorische und -strukturierende Mittel, das fast durchgängig zum Einsatz kommt, ist zweifellos der Rahmen: Immer wieder wird in das Bild mindestens ein weiterer Bildrahmen eingezogen, dessen Bild das dahinterliegende halbtransparent überlappt. Diese Rahmung schachtelt sich zuweilen drei- bis viermal ineinander und lässt nie vergessen, daß auch das Filmbild selbst durch die unverzichtbaren Ränder der Leinwand begrenzt wird. Auch schaffen die Rahmen hier keine verläßlichen narrativen Ebenen: Die langsame Bewegung der Kamera läßt Rahmen teils verschwinden, indem sie sich aus ihnen herausbewegt, oder zieht sie rückwärts fahrend in das Bild hinein und hebt das eben Gesehene auf eine vermittelte Stufe. Das manchmal schwer zu durchschauende Mehr an Informationen in den aufeinandergeschichteten Bildern unterstreicht den Überfluß, den Reichtum, die Vielfalt der Gestalten auf der Insel und ist zugleich Teil der ästhetischen Strategie Greenaways: Die Generierung eines Überschusses von Signifikanten. Sie findet sich wieder in der bereits erwähnten Verdreifachung Ariels und vor allem in der Stimme Prosperos, die, da die Handlung vielleicht doch nur in seiner Vorstellung existiert, alle Rollen spricht. Dabei ist sie zum Teil verfremdet (immer aber als die John Gielguds in ihrem speziellen Duktus erkennbar), öfter jedoch verdoppelt von den Stimmen der eigentlich sprechenden Charaktere. Spiegel kommen zum Einsatz und generieren etwa zu Filmbeginn, wie zur Einführung des Konzeptes, ein Double von Prospero. Schließlich bildet Schrift (in der Verbindung mit den leitmotivischen Büchern ohnehin latent präsent) durch Untertitelung eine gelegentliche Verdopplung des Gesehenen oder Gehörten.
Buchstaben sind überall: Auf den herumfliegenden Buchseiten, auf Prosperos Mantel, auf den Wänden, in der Niederschrift des Stücks durch Prospero. Damit ist des Mediums gedacht, durch das die Stücke Shakespeares überliefert sind und das auf komplizierte und widersprüchliche Weise mit der Buchstabenferne einer genuin audiovisuellen Bühnendarstellung verknüpft ist. Der Transfer dieser Buchstaben in Sprache schlägt sich in den omnipräsenten Wortketten Prosperos nieder: Nur an wenigen Stellen verstummt sein Redefluß, dessen komplexe Grammatik gelegentlich von anderen Geräuschen und Stimmen überlagert wird und nicht selten in einen melodiösen Singsang übergeht. Der Wortinhalt ordnet sich dann ganz der sinnlichen, opernhaften Qualität des musikalisch von Michael Nyman ausgestatteten Gesamtkunstwerks unter: Insbesondere der Höhepunkt des Films, eine höfische Masque, in der allegorische und mythische Figuren ihre Segenswünsche über dem Brautpaar Miranda und Ferdinand ausschütten, gestalten Greenaway und Nyman zur mitreißenden Musicalnummer. Diese Masque stellt in ihrer inszenatorischen und musikalischen Opulenz einen Schlüsselmoment dar: Sie gibt auch anderen Charakteren eine eigene, nicht durch Prospero gestützte Stimme. Bis hierhin war das Stück eine einzige One-Man-Show, eine Kopfgeburt des stets gegenwärtigen Strippenziehers und Erzählers, der seinen Geschöpfen kaum ein erkennbares Gesicht verliehen hatte. Nun scheint ein gewisser Emanzipationsprozeß angestoßen, der folgerichtig im Lösen der Abhängigkeiten auch seitens Prosperos mündet. Er zerbricht nicht seinen Stab, sondern die Schreibfeder, die ihm das magische Instrument in der Erschaffung seiner Kreaturen und des ganzen Inselreiches war.
Es stellt sich bei Betrachtung der hier nur beispielhaft ausgewählten Aspekte der erzähltechnischen und visuellen Komplexität und Raffinesse die berechtigte Frage, ob sich „Prospero’s Books“ in der verdreifachten Selbstbespiegelung eines schöpferischen Geistes (Prospero - Shakespeare - Greenaway) erschöpft. Dem ist nicht so. Greenaway eröffnet zwar nicht als erster, aber unter Aufwendung aller (und einiger neuer) kinematographischer Mittel das ganze Spektrum der Spannungen zwischen Natur und Kultur, zwischen Urzustand und zivilisierter Verfeinerung, zwischen (stummer) physisch-sensorischer Direktheit und logisch-moralisch (und vor allem sprachlich) reflektierter Distanz. Den nackten, teilweise mit erdigen Farben bemalten, langhaarigen und vielgestaltigen Inselbewohnern stehen Prospero und Miranda stets bekleidet und in Kontrolle ihrer Sprache, Bewegung und Körperfunktionen gegenüber. Der Gegensatz wird vielleicht am schärfsten durch Caliban und die adelige Schiffsbesatzung illustriert: Caliban, dargestellt durch den Tänzer und Choreographen Michael Clark, ist ganz Körper, elegante Bewegung und animalische Kraft, während die kontinentalen Herren in lächerlich großen Halskrausen auf kothurnartigen Schuhen umherstelzen, unter ihren Kostümen nicht auszumachen und dergestalt quasi ent-körperlicht sind. Mit diesem postkolonialer Anständigkeit geschuldetem Bezugsrahmen (der Diskurs vom edlen Wilden reicht allerdings bis zurück in die Texte Montaignes) ist Greenaway längst nicht zufrieden; er überzieht den gesamten Film mit einem augenfälligen Netz ovidischer Querverweise, dessen „Metamorphosen“ dem „Tempest“-Text bis hin zum Kryptozitat einzuflechten Shakespeare sich nicht enthalten hat. Ergänzt wird das ganze um die oben erwähnten eingefügten Buchbeschreibungen, die durchaus unerwartete Interpretationen bieten. So impliziert ein Band, Prospero habe – in faustischer Unverfrorenheit – seine (im Originaltext kaum erwähnte) Frau nach ihrem Ableben für anatomische Studien mißbraucht. Offen bleibt auch, wer die Buchbeschreibungen aus dem Off liest – es handelt sich nicht um Prosperos Stimme, wodurch sie die Position einer neutralen (und nochmals rahmenden) Erzählinstanz einnimmt. Und als ironische Pointe ist es am Schluß ausgerechnet Caliban, der die Schriften Shakespeares aus dem Wasser rettet und für unsere Nachwelt bewahrt. Das Wasser als ein Greenawaysches Leitmotiv eröffnet und beschließt den Film, nachdem es in Form des Meeres, in Bassins oder als Regen ständig präsent war.
Greenaway ist mit „Prospero’s Books“ gelungen, was – auch ihm selbst – nicht oft gelungen ist: Das Überführen eines künstlerischen Modells mit seinen ihm eigenen Gesetzmäßigkeiten, Ausdrucksformen und Beschränkungen in ein neues, anders funktionierendes Modell, und zwar bei gleichzeitiger Bewahrung als auch Aneignung des Stoffes, bei voller Ausnutzung, sogar Überschreitung des zur Verfügung stehenden Methodenarsenals, im vollen, reflektierenden Bewußtsein dieser Vorgänge und mit gezielter Kenntlichmachung dieses Bewußtseins. Dabei für den Betrachter immer die Möglichkeit offen zu lassen, im rein sinnlichen Genuß der Ausstattung, der Musik oder der Sprache, ob verbal oder filmisch, schwelgen zu können, ist die erstaunliche und erfreuliche Leistung Greenaways. Ein künstlerischer Wurf wie dieser macht es Nachfolgern außerordentlich schwer, wie der jüngste Versuch von Julie Taymor (The Tempest, 2010) gezeigt hat. Er zeigt aber auch, daß es bis heute möglich geblieben ist, 400 Jahre alte, scheinbar hermetisch abgeschlossene Aussagensysteme für unsere Rezeption zu öffnen, sich ihnen anzuverwandeln, sie mit aktueller Bedeutung aufzuladen und gerade in der Metamorphose sich selbst zu erhalten.