Es ist so eine Sache mit der Kunst diktatorischer Regime: Nicht selten interessierte vor allem im 20. Jahrhundert eine frische politische Ideologie zumindest in der Anfangsphase auch reflektierte Künstler, die sich für neue Welt- und Menschenbilder begeisterten und sich ihnen verschrieben. Oder sie stellten ihre Dienste aus Überzeugung oder Desinteresse auch dann zur Verfügung, als die dunklen Seiten der Systeme schon gut zu erkennen waren. Bekannte Beispiele sind der Futurismus in Italien, die Filme Leni Riefenstahls im Nationalsozialismus oder die Filme Eisensteins für die junge Sowjetunion: In diesen (Ausnahme-)Fällen überwiegt aus heutiger Sicht die Bedeutung der künstlerischen Innovation den propagandistischen Anteil, und gerade im Fall des inzwischen untergegangenen realexistierenden Sozialismus scheint die Gefahr einer kommunistischen Infiltration derzeit äußerst gering. Entsprechend laufen die Filme Eisensteins, Pudowkins oder Wertows ohne weiteres Aufsehen im nächtlichen Fernsehprogramm.
Michail Kalatosow darf man bedenkenlos in die Reihe der letztgenannten Namen einfügen, denn es verbindet ihn einiges mit diesen Filmemachern: Die Werke des russischen Regisseurs, der bereits in der Stummfilmära zu arbeiten begonnen hatte, haben stets eine starke staatstragende Aussage, verbunden mit hoher technischer Meisterschaft und künstlerischem Anspruch. Entsprechend holten in den 1990er Jahren Martin Scorcese und Francis Coppola einen Film aus den kubanischen Archiven, der seit seiner Erstaufführung im Jahr 1964 nicht mehr gezeigt worden war. Kalatosows „Soy Cuba“ („Ich bin Kuba“), eine kubanisch-sowjetische Koproduktion, lief mit großem Erfolg auf verschiedenen US-Festivals und verblüffte das Publikum durch eine ungeahnte visuelle Kraft und innovative Filmtechnik, die in der westlichen Filmsprache erst mit einiger Verspätung zur Geltung kamen. Kalatosow hatte bereits mit „Wenn die Kraniche ziehen“ 1958 in Cannes reüssiert und darin mit dem Kameramann Sergej Urusewski einen eigenen visuellen Stil entwickelt, der hauptsächlich auf einer kontraststarken Schwarzweiß-Fotografie sowie der häufig eingesetzten, äußerst agilen und dynamischen Handkamera beruht. Diesen Stil entwickelte er ein Jahr später in „Ein Brief, der nicht ankam“ weiter und vervollkommnete ihn in „Soy Cuba“ – diese drei Filme sind es, die in der Retrospektive den Kern des vergleichweise schmalen Oeuvres Kalatosows ausmachen und es künstlerisch definieren.
Anfang der 60er Jahre beschloß die gerade etablierte kubanische Regierung die Gründung eines staatlichen Filminstituts und die Darstellung der erfolgreichen Revolution in einem großen Propagandafilm. Dafür engagierte man die Besten, die der „große Bruder“ Sowjetunion zu bieten hatte: Neben dem international geschätzten Dichter Jewtuschenko, der das Drehbuch besorgte, reiste der palmenbekränzte Kalatosow mit Kameramann Urusewski und Crew an, um mit unbegrenzten Zeit- und Geldmitteln innerhalb von zwei Jahren ein Prestigeprodukt ohne Gleichen zu verwirklichen.
Tatsächlich ist die Form eines Episodenfilms ohne zentralen Helden für ein Propagandawerk eher ungewöhnlich, und erst auf den zweiten Blick tritt die lose Verknüpfung der Handlungsstränge durch den Studenten Enrique heraus, der anfangs kurz auftaucht, dann einen Märtyrertod stirbt und damit indirekt den bewaffneten Kampf gegen das Regime Batistas in der letzten Episode anstößt. Es ist auch diese lange mittlere Sequenz der Studentenproteste vor der Universität von Havanna, die ideologisch und vom „Communist Kitsch“ (DVD-Cover) am stärksten aufgeladen ist und dem heutigen Zuschauer einiges Unbehagen verursachen könnte: Hier werden Stalins Büste und Lenins „Der Staat und die Revolution“ ins Bild gehalten, eine weiße Taube erschossen, Eisensteins Treppe von Odessa zitiert und die einzige, um so wirkungsvollere Massenszene des Films verwirklicht. Auch findet sich hier der berühmte Trauerzug für Enrique, der in einer einzigen langen Einstellung gedreht wurde und in der die Kamera von der Straße an einer Hauswand emporschwebt, um anschließend durch eine Zigarrenfabrik hindurch und in luftiger Höhe über die Straße zu gleiten.
Doch über weite Strecken des Films hält sich der propagandistische Ballast in Grenzen, es wird vornehmlich das Leben der einfachen Kubaner in den Slums und auf den Feldern (meist durch überzeugende Laiendarsteller), ihr Leiden unter der Armut, der Kampf eines Volkes gegen ein Regime porträtiert – ein Anliegen, das im besten Sinne als universal und genuin humanistisch gesehen werden kann. Die fünf Episoden aus verschiedenen Momenten vor und während der Revolution werden durch ein Gedicht verknüpft, das eine Frauenstimme aus dem Off liest, die das Land selbst verkörpert. Dialoge und längere Textpassagen sind jedoch insgesamt eher sparsam und wenn, dann sehr pointiert eingesetzt. Kennzeichnend für den Film ist indessen eine visuelle Überwältigung, die „Soy Cuba“ überhaupt die Qualität verleiht, die das Interesse von Coppola und Scorcese geweckt haben dürfte.
Die Kamera ist für Kalatosow ein eigenständiger Protagonist in dem Sinne, daß sie immer auf buchstäblicher Augenhöhe mit den Charakteren ist, und daß es keine einzige Einstellung aus der Ich-Perspektive für einen der Handelnden gibt – kein auktoriales Vehikel kommt hier zum Einsatz, sondern die Kamera ist ein unabhängiger, unbestechlicher Augenzeuge. Wenn Protagonisten manchmal direkt in sie hineinblicken, so ist dies kein postmodernes Durchstoßen der vierten Wand, sondern das Anerkennen der Kamera als eigene, agierende Instanz und die Kommunikation mit ihr. Nur zu Beginn und zum Abschluß der Episoden bzw. des Films gibt es Bilder aus dem Helikopter oder vom Kran, klassische Establishing Shots, ansonsten befindet sich die Kamera stets zu ebener Erde, mitten im Geschehen. Auf der Schulter ihres Trägers atmet und bebt sie mit ihm, springt mit ihm auf, kippt und schwenkt rasch, rennt den Darstellern hinterher, umkreist sie, rückt so dicht wie möglich an sie heran, so daß jede Pore, Schweißperle, jedes Staubkorn sichtbar werden. Kein Dolly, Kran und keine Steadycam (die noch nicht erfunden war) federn dabei die Spannung und das Beben ab, die damit nicht etwa zum Wackelkamera-Manierismus neuerer Art, sondern zu einer unnachahmlichen Dynamik und Lebendigkeit des Bildes führen. Die langen, ungeschnittenen Takes durchkreuzen den Raum völlig losgelöst und verleihen dem Film durch die Gewißheit, daß hier niemals im Studio, sondern ausschließlich vor Ort gedreht wurde, eine dokumentarische, wahrhaftige Dimension. Nach eigenem Bekunden war Scorsese davon besonders beeindruckt, und tatsächlich: Als sich die Kamera z.B. zu Anfang durch eine Party in einem Penthouse schlängelt, nimmt sie den Tracking Shot durchs Restaurant in „Mean Streets“ vorweg, der im Vergleich geradezu ungelenk wirkt. Das Ein- und Wiederauftauchen aus dem Pool wird zweifelsohne von Andersons vielgerühmter Steadycam in „Boogie Nights“ zitiert.
Hinzu kommt die ausgeklügelte, grafisch starke Bildgestaltung Kalatosows, die das alte Academyformat von 1,33:1 mit einem Weitwinkelobjektiv kombiniert. Die durch die Linse an den Bildrändern entstehenden Verzerrungen, die man als Stilmittel aus den Filmen Terry Gilliams oder J.-P. Jeunets kennt, sind auch hier ein gewolltes Element, drängen die Objekte und Personen in den engen Bildrahmen und betonen die straffen Kompositionen Kalatosows: Nicht die horizontale Weite und Offenheit der Landschaft interessiert ihn, sondern harte vertikale und diagonale Strukturen: Palmen, Zuckerrohr, die Hochhäuser Havannas – und natürlich die menschliche Gestalt, deren aufrechtem Gang sich eine solche Ästhetik in schönster und angemessenster Weise anverwandelt. Daß dies einem Cinemascopebild schlicht unmöglich ist, wußte schon Fritz Lang, dessen notorisches Zitat gar nicht erst ins Feld geführt werden muß.
Zusätzlich wird die grafische Abstraktion durch den gelegentlichen Einsatz von Filtern und hochempfindlichem Filmmaterial verstärkt, die verblüffende Kontrasteffekte bewirken und den tiefblauen Himmel Kubas als dunkle Fläche erscheinen lassen, vor dem sich hell die Palmen abheben (dies paßt freilich zur vermittelten Weltanschauung, in der für differenzierte Grauschattierungen wenig Platz ist und die Extreme zweckorientiert hervorgehoben werden). – Die durch die dynamische Kamera erzielte lebendige Direktheit und Unmittelbarkeit des Kinobildes, verbunden mit einer ethisch und sozial geerdeten Darstellungsabsicht, wurde seitdem kaum so konsequent und effektiv umgesetzt und findet ein Pendant erst wieder in heutigen knapp budgetierten Produktionen, die ausschließlich mit der (digitalen) Handkamera gedreht werden und so ebenfalls eine größtmögliche Authentizität sowie die Nähe zwischen Dargestelltem und Betrachter suchen (z.B. die Filme Brillante Mendozas). Unabhängig und uneinholbar von der technischen Evolution ist jedoch Kalatosows kraftvolle, holzschnittartig-expressionistische Bildgestaltung, die unverwechselbar ganz ihm selbst gehört.
Daß „Soy Cuba“ noch im Jahr seiner Premiere in den Archiven verschwand, ist angesichts der beschriebenen Innovationen und des immensen Aufwands frappierend. In der Dokumentation „I Am Cuba – The Siberian Mammoth“ beschreiben kubanische ehemalige Crewmitglieder, daß sie sich und ihr Land in Kalatosows Werk nicht repräsentiert fühlten – der Film war ihnen „zu russisch“ geraten. Daß auch die UdSSR nicht restlos glücklich war, läßt sich ohne weiteres schon aus der ersten Episode heraus vermuten, worin der Katholizismus von Maria freimütig als wichtiger Bestandteil der kubanischen Kultur anerkannt wird. Nicht zuletzt mag beiden Staaten Kalatosows Avantgardismus unheimlich gewesen sein und ihn in den gern und pauschal angewandten „Formalismusverdacht“ gebracht haben. Die Tatsache schließlich, daß auch in Deutschland seit den 90er Jahren keine (von mir gefundene) kritische Reaktion auf den Film vorliegt, könnte wiederum mit den Zeitläuften zu begründen sein, die in einem Land, dessen kleinere Hälfte soeben eine Weltanschauung so gründlich abgeschüttelt hatte (um diejenige der größeren Hälfte überzustreifen), eine Beschäftigung mit wie auch immer gearteten kommunistischen Propagandafilmen als Zeitverschwendung haben erscheinen lassen. Ein Versäumnis, das es nachzuholen gilt.