Review

Nachdem er seinen letzten Poliziescho "Milano rovente" (1973) schon in Mailand spielen ließ, knüpfte Umberto Lenzi mit "Milano odia: la polizia non può sparare" nicht nur wieder an den Ort der Handlung, sondern auch an die schöne Tradition an, dem Polizeifilm einen lange Titel zu geben, wie zuvor beispielhaft "La polizia sta a guardare" (Der unerbittliche Vollstrecker, 1973) von Roberto Infascelli oder "La polizia incrimina la legge assolve" (Tote Zeugen singen nicht, 1973) von Enzo G.Castellari. Auch die Bedeutung des Titels ist recht viel sagend mit "Mailand hasst: die Polizei darf (wahlweise "kann") nicht schießen", aber der deutsche Verleih machte daraus ein profanes "Der Berserker". Seltsamerweise wird in vielen Publikationen die Meinung vertreten, der deutsche Titel, der sich auf den von Tomas Milian verkörperten Kriminellen Giulio Sacchi bezieht, träfe damit ins Schwarze, dabei verkennend, das Milian in "Milano odia: la polizia non può sparare" keinen brachialen Gewalttäter, sondern einen in seiner Komplexität neuen Verbrechertypus schuf, der prägend für das Genre wurde.

Lenzis Polizeifilme orientierten sich Mitte der 70er Jahre an den realen Ereignissen in Italien - steigende Verbrechensraten und Terrorakte - und wurden in der Darstellung von Gewalttaten zunehmend umfassender ("Roma a mano armata" (Die Viper, 1976)). Hier, in seiner ersten Zusammenarbeit mit Tomas Milian, beschränkt er sich größtenteils auf eine damals sehr populäre Methode - Entführung und Erpressung, wie sie etwa auch Eriprando Visconti in "La Orca" (La Orca - gefangen, geschändet, erniedrigt, 1976) oder er selbst in einer weiteren Zusammenarbeit mit Tomas Milian und Henry Silva in "Il trucido e lo sbirro" (Das Schlitzohr und der Bulle) thematisierte. Der von Milian gespielte Giulio Sacchi ist nur aus diesem Zeitgeist heraus zu verstehen, denn Lenzi macht deutlich, das es sich bei dem filigranen, äußerlich wenig Furcht einflößenden Kleinganoven ursprünglich um einen Mitläufer handelt, der in Unterweltkreisen nicht für voll genommen wird.

Gleich zu Beginn versaut er beinahe einen Banküberfall, als er überhastet reagiert, als sich ein Polizist dem von ihm gesteuerten Fluchtfahrzeug nähert. Die Gangster unter der Leitung von Ugo Majone (Luciano Catenacci) lassen ihn sein Versagen darauf hin körperlich spüren und jagen ihn zum Teufel. Doch Sacchi reagiert nicht typisch - weder rächt er sich, noch begeht er irgendwelche überhasteten Verbrechen auf eigene Faust - sondern nutzt sein Image für seine weitere Vorgehensweise. Ihn als Wahnsinnigen zu bezeichnen, ist zu oberflächlich, auch wenn Milian das rigorose Morden seiner Figur häufig mit einem leicht irren Blick begleitet und wenig Coolness ausstrahlt. Doch das sollte nicht verkennen lassen, dass seine Taten oft spontan, auch ungewollt oder gezwungenermaßen geschehen, er aber instinktiv stets das schlüssige Alibi im Auge behält. Sacchi tötet im Film letztlich nur Menschen, die ihm als Zeugen gefährlich werden könnten, auch wenn diese ihm persönlich nahe stehen. Gefährlicher ist er im täglichen Umgang, in seiner Art seine Umgebung zu beeinflussen - dagegen mordet er direkt und ohne sadistischen Gestus.

Das Neuartige an dieser Figur liegt darin, das diese sich aus dem zunehmenden Bewusstsein einer Unterschicht entwickelt, den Aufstieg auf legale Weise nicht schaffen zu können. Kein passives Abgleiten in die Kriminalität als Ausdruck des bürgerlichen Scheiterns, sondern ein aus innerer Überzeugung gerechtfertigtes aktives Vorgehen treibt den arbeitslosen Sacchi an. Seine Argumente klingen nach Klassenkampf, womit er die politischen Absichten dahinter pervertiert. Zudem begreift er, der auch eine hübsche, bürgerliche Freundin hat (Anita Strindberg), die Mechanismen einer sich rasant verändernden Gegenwart, indem er mit überholten gesellschaftlichen Klischees spielt. Sehr genau erfasst Ennio Morricones Musik diesen Charakter, die das unter dem fast harmlos wirkenden Äußeren verborgene Grauen anklingen lässt. Damit griff Lenzi, angesichts der Stärkung der Arbeiterklasse Ende der 60er Jahre und einer daraus entstehenden Durchlässigkeit der Schichten, unmittelbar die Ängste einer konservativ geprägten Gesellschaft auf. So sehr er Sacchis gnadenloses Vorgehen ins Extreme zuspitzt und nicht mit schockierenden Momenten spart, so faszinierend bleibt diese Figur trotzdem in ihrer aalglatten Flexibilität - ihn als "Berserker" zu bezeichnen, könnte missverstandener kaum sein.

Das Lenzi dessen Gegenpart Commissario Walter Grandi (Henry Silva) deutlich reduzierter angelegt hat, liegt an dessen Verkörperung des bisherigen Status. Brandi ist zwar einer von der harten Sorte, aber noch ganz dem konservativen Kampf gegen das Verbrechen verpflichtet. Er reiht sich damit in eine Umgebung ein, die im Gegensatz zu Sacchi noch nicht in der Moderne angekommen zu sein scheint. Lenzi verzichtet als Kontrast zu Sacchi auf jede Überzeichnung der anderen Protagonisten, unabhängig davon, ob es sich um den Großindustriellen Porrino (Guido Alberti) handelt, dessen Tochter Marilù (Laura Belli) entführt wurde, um den Staatsanwalt, um Sacchis Freundin oder seine beiden Kumpanen. Sie alle verhalten sich entsprechend ihrer jeweiligen Position angemessen und nachvollziehbar, womit sie Sacchi nicht gewachsen sind, dessen Verhalten Jeden von ihnen überrascht. Grandis abschließende Konsequenz ist entsprechend keine Befreiung, sondern Ausdruck einer tiefgehenden Hilflosigkeit.

Die Figur des Giulio Sacchi wurde in den folgenden Jahren von Tomas Milian mehrfach variiert und wiederholt gespielt. In ähnlich bösartig hinterlistiger Form als der Bucklige ("Il gobbo") Vincenzo Moretto, in "Roma a mano armata", diesmal mit Maurizio Merli als Gegenspieler, der die Zeichen der Zeit erkannt hatte. In der abgeschwächten Figur des gewitzten Kleinkriminellen Sergio Morazzi, erstmals in "Il trucido e lo sbirro" auftretend, und am populärsten als ungewöhnlicher Polizist Nico Giraldi, dessem "Squadra antiscippo" (Der Superbulle mit der Strickmütze, 1976) noch zehn weitere Filme folgen sollten. So unterschiedlich sie charakterlich auch angelegt waren, so vereinte sie doch eine Eigenschaft - sie waren in der Gegenwart angekommen (8,5/10).

Details
Ähnliche Filme