Es ist Nacht. Alice (Marysia Kay) erwacht in ihrem Bett. Sie steht auf, bewegt sich vorsichtig zur Treppe, ihre schlichte Stoffpuppe Rosina weit vor sich gestreckt. Es hat den Anschein, als solle die Puppe ihr den Weg weisen, als solle sie auskundschaften, ob alles sicher ist. Dann stürmt Alice die Treppe hinunter und aus dem Haus. Ihr Ziel ist der alte Brunnen, der sich im Hof befindet. Als sie mit Rosina in den finsteren Schacht hinabsieht, rutscht ihr die Puppe aus der Hand, fällt in die Tiefe und klatscht ins Wasser auf dem Boden. Alice ist verzweifelt, und als sie sieht, wie Rosina versinkt, springt sie ihr kurzerhand nach. Und erwacht in ihrem Bett. Es war bloß ein Traum. Aber wieso ist sie dann klatschnaß? Und Rosina... warum blutet sie? Plötzlich ist alles voller Blut. Das Bett, der weiße, durchsichtige Stoffvorhang, der das Bett umgibt, sie selbst. Zwei weitere Personen betreten leise das Zimmer. Lucia (Debbie Rochon), Alices ältere Schwester, sowie deren Ehemann Pietro (Michael Segal). Besorgt beobachten die beiden die träumende, geistig etwas zurückgebliebene Zweiundzwanzigjährige, welche panisch versucht, den auf sie einprasselnden imaginären Schrecken abzuwehren. So beginnt Ivan Zuccons Lovecraft-Adaption Colour from the Dark.
Die kleine Familie, die in einer ländlichen Gegend Italiens auf einem alten Bauernhof lebt, hat es nicht leicht. Man schreibt das Jahr 1943, und es herrscht Krieg. Pietros Bruder Luigi (Emmett J Scanlan) kämpft an der Front; man hat schon lange nichts mehr von ihm gehört. Faschisten durchstreifen das Land, auf der Suche nach Juden, die sich hier verstecken. So wie z. B. Teresa (Alessandra Guerzoni), die bei Pietros Nachbarn und Freunden Giovanni (Gerry Shanahan) und dessen Enkelin Anna (Eleanor James) Unterschlupf gefunden hat. Dann fällt Alice beim Wasserholen der Kübel in den Brunnen. Um ihn zu bergen, stochert Pietro mit einem langen, hakenbestückten Stab am Boden herum. Plötzlich bricht der Boden auf, eine Wasserfontäne spritzt hoch, ein dichter, stinkender Nebel und grelle Lichtblitze entweichen der Öffnung. Nach ein paar Sekunden ist der Spuk auch schon wieder vorbei. Pietro und Lucia denken sich nicht viel dabei und verwenden das Brunnenwasser wie gehabt. Was sollen sie auch anderes tun? Es gibt weit und breit keine andere Quelle. Anfangs scheint das Wasser eine positive, fast schon wundersame Wirkung auszuüben. Pietros steifes Bein heilt über Nacht, die stumme Alice spricht wieder, und das Gemüse im Garten wächst wie verrückt. Doch die böse Saat ist gesät, und die Früchte, die sie trägt, hören auf die Namen Grauen, Wahnsinn und Tod...
Es gibt eine Handvoll ambitionierter Filmemacher, die das italienische Genrekino allen Widrigkeiten zum Trotz am Leben erhalten. Ivan Zuccon ist einer davon. Gegen Ende der 1990er-Jahre startete er seine Regiekarriere mit einigen Kurzfilmen, bevor er mit L'altrove (Darkness Beyond) im Jahr 2000 seinen ersten Spielfilm vorlegte. Es folgten Maelstrom - Il figlio dell'altrove (Armee des Jenseits - Unknown Beyond, 2001), La casa sfuggita (Shunned House - Haus der Toten, 2003), Bad Brains (2006), Nympha (2007) und schließlich Colour from the Dark (H.P. Lovecrafts Saat des Bösen). Sein neuester, 2013 erschienener Streich nennt sich Wrath of the Crows. Aus seinem Schaffen kannte ich bis dato nur Maelstrom - Il figlio dell'altrove, der zwar einige gute Ideen hatte, dessen Umsetzung mich aber fürchten ließ, es hier mit einem neuen Ed Wood zu tun zu haben. Nun, nach Sichtung von Colour from the Dark, freut es mich sagen zu können, daß ich meine erste Einschätzung revidieren darf. Ja, wirklich, es freut mich sehr, daß ich bei Zuccon falsch gelegen bin. Denn der Mann hat einiges drauf.
Würde man die Stimmung, die in Colour from the Dark vorherrscht, riechen können, dann wäre es wohl der Gestank von Fäulnis, Zerfall und Verwesung. Innerhalb von acht Tagen (der Zeitraum, über den sich das unerquickliche Geschehen erstreckt, ist von Montag bis zum darauffolgenden Montag) geht alles den Bach runter. Zuccon erzählt die Geschichte ohne einen Funken Humor. Die hier vorherrschende Tristesse grenzt beinahe an Schwermut. Kaum jemand der dem Untergang geweihten Protagonisten lächelt einmal, niemand scheint glücklich zu sein, jeder leidet sich auf die eine oder andere Weise durch den Tag. Und das schon lange bevor mit der "Farbe aus dem Dunkeln" das Unheil erst so richtig über den alten Gutshof hereinbricht. Bei Lovecraft ist der Auslöser des Grauens ein auf die Erde gestürzter Meteorit; bei Zuccon ist es eine andersartige Wesenheit, die eingesperrt unter dem Brunnen haust. Worum es sich dabei genau handelt, wird nicht erklärt. Es ergreift von den Menschen, von den Früchten, vom Gemüse, von der Farm und auch von Gegenständen Besitz und zerstört sie. Daß es den Verdammten zuvor noch einige Hoffnungsschimmer gewährt, macht es nur umso fieser.
Die beste schauspielerische Leistung - obwohl Marysia Kay (Forest of the Damned) als Alice ebenfalls ganz famos ist - liefert zweifelsfrei die am 3. November 1968 in Vancouver geborene Debbie Rochon (Tromeo and Juliet, Terror Firmer, Slime City Massacre, und mehr als zweihundert (!) andere Filme, in denen sie vor der Kamera agierte) als Lucia ab, die sich als erste negativ zu verändern beginnt. Unterstützt vom sorgfältigen und gut durchdachten Einsatz von Make-Up und CGI spielt Rochon groß auf, verleiht ihrer "Besessenheit" und dem damit verbundenen inneren Widerstreit ihrer Gefühle (sie wird gezwungen, schreckliche Dinge zu tun) so glaubwürdig Ausdruck, daß man sich eines unbehaglichen Schauers nicht erwehren kann. Sehr unheimlich sind auch Lucias Augen, die sich manchmal pechschwarz verfärben. Überhaupt ist Colour from the Dark visuell sehr beeindruckend, und Zuccon gelingen einige effektiv-gruselige Bilder bzw. Set-Pieces. Ein zerschmelzendes Kruzifix, die langsam vor sich hin wesende Leiche einer Frau im Wald, das schleimtriefende, verfaulende Gemüse, das vor wenigen Tagen noch so lecker aussah, die Stoffpuppe Rosina, die vom Bösen nicht unverschont bleibt, die malerischen Gemäuer, die immer mehr verkommen. Und die drei, vier Schockmomente sind dermaßen gut getimt, daß man unwillkürlich zusammenzuckt.
Die im März 1927 von H.P. Lovecraft verfaßte Kurzgeschichte The Colour Out of Space (Die Farbe aus dem All) wurde meines Wissens bislang vier Mal verfilmt. 1965 entstand unter der Regie von Daniel Haller Die, Monster, Die! (Das Grauen auf Schloss Witley), 1987 inszenierte David Keith The Curse, 2008 drehte Ivan Zuccon nach einem Skript von Ivo Gazzarrini die hier besprochene Variante, und zwei Jahre später versuchten sich Huan Vu und Jan Roth mit Die Farbe (2010) an dieser klassischen Schauergeschichte, die zu meinen absoluten Lieblingswerken in Lovecrafts Oeuvre zählt. Zuccon und Gazzarrini nehmen sich viele Freiheiten. Der Schauplatz wurde von Neuengland anno 1882/83 ins ländliche Italien zur Zeit des Zweiten Weltkrieges verlegt, die Zeitspanne differiert (in der zugrundeliegenden Geschichte erstreckt sich der Zerfall über Monate), die Figurenkonstellation ist eine andere, und die Art des Grauens weicht ebenfalls von der Vorlage ab. Es handelt sich jedoch nicht um einen ordinären Dämon, auch wenn einige Szenen an den Horrorklassiker The Exorcist erinnern (z. B. gibt es mit Vater Mario (Matteo Tosi) einen Priester, der sich der beunruhigenden Entwicklung entgegen zu stellen versucht). Weder christliche noch jüdische Symbole erzielen die geringste Wirkung. Eine werkgetreue Umsetzung der Lovecraft-Story ist Colour from the Dark somit nicht. Aber es ist eine sehr stimmige, bisweilen sogar packende Variante der Vorlage.
Angeblich kostete Colour from the Dark in etwa schlappe einhunderttausend Dollar. Sollte das stimmen, steigt meine Hochachtung für Zuccon und seine Leute noch um ein Vielfaches. Es ist offensichtlich, daß hier einiges an Talent am Werk war, und das Ergebnis kann sich wahrlich sehen lassen. Neben der dichten, beklemmenden und ausweglosen Stimmung gefällt mir vor allem die konsequente Dramaturgie. Der Horror steigert sich stetig, andere, unbeteiligte Personen werden ins grausige Geschehen hineingezogen, die Hoffnung auf ein Happy End schwindet rapide. Aber auch die Schauplätze sind toll, Marco Werbas effektiver Score unterstreicht die schrecklichen Vorgänge adäquat, ohne sich in den Vordergrund zu drängen, und die Kamera gleitet bedrohlich durch die Nacht, fängt die mondbeschienenen Gemäuer stimmungsvoll ein, zoomt langsam auf unergründliche Gesichter zu oder erforscht die schäbige Dachkammer, in der eine "Besessene" eingesperrt ist (da kommt eine schöne Evil Dead-Atmosphäre auf). Sowohl die Kamera als auch den Schnitt besorgte übrigens Ivan Zuccon selbst. Auf der negativen Seite sind der etwas billige Digital-Video-Look und die durchwachsenen CGI-Effekte zu vermelden, die zwar - in Anbetracht des Budgets - sehr gut gemacht sind, aber doch nicht immer überzeugen können. An den handgemachten Gore-FX gibt es aber nichts zu bekritteln. Colour from the Dark ist vielleicht keine gelungene Lovecraft-Adaption, aber es ist ein sehr gelungener Horrorfilm. So gelungen, daß ich mich jetzt, da ich diese Zeilen zu Ende getippt habe, gleich ins Internet begeben und sämtliche erhältlichen Filme vom werten Herrn Zuccon ordern werde.