Review

„Bist du soweit?" - „Ja, schmeiß es an!".
Gleich zu Beginn des Films werden wir Zeuge, wie eine Bande Maskierter ein Restaurant überfällt. Mittels subjektiver Kamera werden wir, die Zuschauer, Zeuge des Raubs, der Flucht und schließlich des Todes derjenigen Person, aus deren Perspektive die Szenerie geschildert wird. Zuschauerblick und Kamerablick verschmelzen miteinander. Individuelle Erfahrungen und Wahrnehmungen werden durch eine Technologie namens SQUID, die selbige auf Minidisc aufzeichnet, intersubjektiv erfahrbar und lassen (gegen Geld) fremde Menschen teilhaben an Szenen des eigenen Lebens. Lenny Nero (Ralph Fiennes), der „Seher" des beschriebenen Todes-Clips und ehemals ein Cop, handelt damit. Sein Leben bekommt er nicht mehr auf die Reihe, seit sich dieser berufliche Wandel vollzogen hat. Vom aktiven Polizisten ist er zum passiven Loser geworden, der seiner Ex-Freundin, Sängerin Faith (Juliette Lewis), nachtrauert und einzig durch eigene aufgezeichnete Clips vergangene, glücklichere Zeiten auferstehen lassen kann. Er ist der Voyeur seiner eigenen Vergangenheit in einer Gesellschaft ohne Zukunft.

In den letzten Tagen des Jahres 1999 scheint die Gesellschaft zu kollabieren. Der schwarze Rapper und Bürgerrechtler Jeriko One (Glenn Plummer), der bei einer im Fernsehen ausgestrahlten Rede in Auftreten und Sprache Martin Luther King ähnelt, wurde erschossen und in den Straßen von Los Angeles regiert die Gewalt, welcher die omnipräsente Macht des Polizeistaats Herr zu werden versucht. Die angespannte Situation, welche ab und an in Verbindung gesetzt wird mit religiösem Fanatismus um die Apokalypse in Anbetracht der Jahrtausendwende, erinnert an die Aufruhen im Zuge der Rodney King-Prozesse 1992. Gleich zu Beginn fährt Lenny in seinem Auto durch die Straßen, in denen das Chaos regiert. Gewalt, Übergriffe und Verhaftungen um ihn herum, er abgeschirmt im Fahrzeug. Das Einzige, was ihn von diesen Menschen unterscheidet, ist - wie er später sagen wird - sein Designer-Anzug - und: seine Passivität. Er nimmt nicht an dieser Realität teil, sondern befindet sich parallel zu ihr; er macht keine eigenen riskanten Erfahrungen, sondern nur die von Anderen, welche ihre wiederum via SQUID aufzeichneten und an ihn verkaufen.

SQUIDs verdoppeln die Realität, machen sie aber zu einer fremden, zu Fiktion. Wie diese Fiktion aussieht, erfahren zwei Bekannte von Lenny am eigenen Leib. Mittels eines zwischengeschalteten Verstärkers wurden deren vordere Hirnlappen „gegrillt" und sie somit unschädlich gemacht. Sie sind zu vollkommener Passivität verdammt, sind geistig weggetreten und nehmen ihre Umgebung nur noch als eine Masse flackernder, verfremdeter Farben wahr. Die Abbildung einer (wenn auch fremden) Realität ist vollkommener Fiktion gewichen, die keinen Bezug mehr vom realen Leben erkennen lässt. Dieser Zustand, ähnlich eines Drogentrips, ist die Kehrseite dieser neuen, ursprünglich für das FBI Entwickelten Technologie, die auf dem Schwarzmarkt gelandet ist und verspricht, Träume wahr werden zu lassen. Lenny selbst bezeichnet sich im Gestus eines Dealers als „Magic Man" und Faiths Freund - gleichzeitig der Manager von Jeriko One - Gent (Michael Wincott), ist in seinem Drang, alles kontrollieren zu wollen, süchtig geworden nach den Clips und verliert sich zusehends in der „fremden" Realität, die diese schaffen. Eine Szene zeigt ihn in einem regelrechten Rausch, bevor er schließlich durch einen zwischengeschaltenen Verstärker bei einer Übertragung und „gegrillten Hirnlappen" durch seinen Quasi-Mörder vollends in dieser Schweinwelt versinkt. 

Der Situation von Lenny und Gent gegenüber steht die wehrhafte Mace (Angela Bassett), Lennys Freundin. Sie hält nichts von SQUIDs, betrachtet diese als „Dreck" und versucht, sich und ihren Sohn durchzubringen. Sie handelt, wo Larry zuschaut. Sie ist aktiv und rettet Lenny aus der ein oder anderen kniffligen Situation, als ihm nach dem Verschwinden einer Bekannten von ihm - Iris - seltsame Clips geschickt werden, auf denen zu sehen ist, wie sie ermordet wird. Dabei schreckt der Mörder nicht davor zurück, sein Opfer mit zu verkabeln, damit sie sehen kann, was er sieht. Iris wird - wie sich herausstellen soll - ermordet, weil sie etwas gesehen und gleichzeitig aufgezeichnet hat, was die Gewalt in den Straßen bei dessen Publikmachen eskalieren lassen könnte: Die Umstände unter denen Jeriko One ums Leben kam. Der intersubjektiv erfahrbare Point of View auf diesem neuen Medium hat somit die Macht, eine gesellschaftliche Revolution auszulösen. Zuvor gilt es aber noch, den Mörder an Iris ausfindig zu machen, was in einem finalen Kampf gipfelt, bei dem sich der Killer als SQUID-Junkie entpuppt, welcher zu weiten Teilen sein Leben aufzeichnete. Der Killer hat dabei stets die Kontrolle über das neue Medium, aber auch über Lenny, der blindlings in eine gestellte Falle tappt. Wieder ist es an Mace, ihn zu retten.

Strange Days reflektiert und kritisiert dabei nicht nur das neue Medium, die neue Technologie, welche in eine neue Dimension der intersubjektiven Wahrnehmung führt und eskapistische Gefahren aufweist. Er ist auch ein Plädoyer für Selbstbestimmung und reflektiert über das Maß der Wahrnehmung, wie viel und welche visuell-akustische Reize in der Mediengesellschaft verantwortbar sind. Dabei hinterfragt Strange Days selbst stets die Sehgewohnheiten des Zuchauers und die Gewalt im Kino, in dem er uns aus der Point of View-Täterperspektive Zeuge werden lässt an einem Mord nach vorausgehender Vergewaltigung in markerschütternden Bildern. Strange Days ist übervoll von diesen exzessiven Reizen. Lennys schon beschriebene Fahrt im Auto stellt uns seine Persönlichkeit als Geschäftsmann vor, während sich Anrufe, klassischer Gesang und Rock im Radio abwechseln und in Zeitlupe eine Verfolgungsjagd auf dem Bürgersteig zu sehen ist. Er taucht ein in die surreale Welt der Clubs, in denen freakige Gestalten der Nacht den entfesselten Auftritten von Bands - darunter: Faith - lauschen. Das Finale wird gerahmt durch die nebenan stattfindende Silvesterparty auf den Straßen von Los Angeles inklusive Konfettiregen.

Die wendungsreiche, aber nicht sonderlich dichte Thrillerstory (es vergehen 45 Minuten, bevor diese in Fahrt kommt) wird mit ordentlichem Spannungsbogen stets nebenher erzählt: Im Vordergrund steht die Reflexion um die Ethik in einer kollabierenden Gesellschaft sowie um das „Medium SQUID" und das daraus resultierende menschliche Drama, welches allerdings zu einem versöhnlichen Abschluss kommen soll. Kathryn Bigelows Film, dessen Drehbuch von ihrem Ex-Ehemann James Cameron geschrieben wurde, ist dabei stets um Tiefgang bemüht, scheitert aber bei einer ausgewogenen Charakterzeichnung zwischen der Figur des Lenny und Mace. Letztere erhält abseits ihrer amazonenhaften Züge kaum Tiefgang und ihre tiefen Gefühle zu Lenny werden letztlich nur mit einer kurzen Rückblende um ihr Kennenlernen auf unkonventionellem Wege erklärt. Dies ist jedoch neben der zuweilen auftretenden Überbetonung religiöser Analogien eine der wenigen Schwachstellen dieses an zeitgeschichtlichen Referenzen und Medienkritik nicht armen Noir-Thrillers. Eine ebenso faszinierende wie kritische Studie über die Macht der Bilder und das Potenzial von Medien, fremde Realitäten zu erschaffen; darüber hinaus ein gut gespieltes Drama um Liebe, Sex, Mord und Macht.

Details
Ähnliche Filme