Der Vorhang öffnet die Leinwand, gibt dem Zuschauer seinen Blick frei auf das große Unbekannte: den Film. Das Logo des Verleihs und der produzierenden Studios erscheint, der Film beginnt... Gleich zu Beginn der große Aufhänger mit viel Gekröse, der Lust macht auf mehr. Jegliche Konvention des Filmbeginns erfüllt sich.
Das nach Kunstblut dürstende Publikum, das Wasser im Munde zusammen laufend, gierend nach mehr, sich erfreuend an der extraordinären Abartigkeit des Gezeigten labt, versenkt das „Werk", dessen Status als solches fragwürdig geworden ist, in sich. Ob Vergewaltigung, Verstümmelung oder - wie hier - die buchstäblich explizit ausgeschlachtete Obduktion: Das ist es, was der durch den vorgeworfenen Fraß der Populärkultur manipulierte Pöbel sehen will, das ist es, wonach es Menschen giert, wenn sie alles haben. Der Materialismus der Konsumgesellschaft - den George A. Romero in seiner Zombieparabel Dawn of the Dead noch so eindrucksvoll allegorisch polemisierte - erschöpft sich im Konsum der Menschen, die Menschen konsumieren. In der Penetration des Körpers, welcher sich niederschlägt in der Penetration des Geistes mit gewaltverherrlichendem Gedankengut. Saw IV der evidente böse Dämon.
Man kann diese Rezension als Manifest verstehen. Als Abgesang auf die Horrormythen klassischer Gruselfilme, welche durch die Moderne eine radikale Wandlung erfahren haben. Der Splatterfilm, er lebe hoch, bei angedeutetem Grauen und Grusel geht niemand mehr ins Kino. Dass der brutale Schocker, der jegliche subtile Suspense im Keim des Ekels erstickt, durchaus hochklassig sein kann fernab der Unterstellung, tiefergehende Erkenntnisse über das Selbst zu liefern, als dass man durch den Genuss der Folter, des Todes und der Verstümmelung sein Innerstes, sein emotional verkrüppeltes und perverses Ich, das bisher im Verborgenen des "Es" schlummerte, offenbart, bewies Saw im Jahre 2004.
Doch mit der Zeit haben die Opportunisten des Kapitals über jegliche Originalität gesiegt. Die Marx´sche Idee des Warencharakters der Arbeit wird bedenklich zugespitzt in die Warenhaftigkeit des menschlichen Körpers, der beliebig gequält, verstümmelt, zerstückelt oder zerfleischt wird. Die ohnehin abnehmende Klasse der Reihe setzt sich mit der zunehmenden Größe der Zahl hinter dem Filmtitel fort, die Spirale der Gewalt dreht sich weiter und weiter, Kreativität erreicht immer wieder neue Tiefpunkte und führt bei Saw IV nur zu einer Konsequenz: der Konsequenzlosigkeit.
Die plumpe Frage nach der Intention des Kreateurs, des Künstlers namens Darren Lynn Bousman, der das Medium Film durch den Verstoß gegen jegliche sittliche Normen korrumpiert, bleibt unbeantwortet. Ist sein Werk die Fortführung so radikaler Kunstrichtungen wie des Dadaismus in der Malerei oder des Wiener Aktionismus in der Performance-Kunst, die den Menschen, welche in den 1910er Jahren den Krieg forderten, ihre eigene Idiotie mit einer pervertierten Kunst ohne Intention, außer der, schocken zu wollen, vor Augen zu halten? Diese Behauptung gilt es mangels Konsequenz zu verneinen. Man klaut beim Genre des Thrillers sowie des Horrorfilms und lässt jegliche Radikalität, welche einen Kinoerfolg konterkarrieren würde, außen vor. Konvention ist Kommerz.
Saw IV verstößt gegen die Gesetze des guten Geschmacks, der Dramaturgie und stiftet mit einer kryptischen Schlusspointe mangels narrativer Plausibilität unsinnig Verwirrung. Technisch ist der Film eine Katastrophe: Der flimmernde Stakkato-Filmschnitt und die zeigefreudige, nie zur Ruhe kommende Kamera nerven durch ihre pure Selbstzweckhaftigkeit. Schauspielerisch kann einzig Tobin Bell als Jigsaw in minutenlangen Rückblenden (immer gern genommen, wenn so langsam die Ideen ausgehen) überzeugen, wenn der Zuschauer über die Vorgeschichte des Mörders, der noch nie selbst einen Mord begangen hat, aufgeklärt wird. Doch auch dies ist kein Lichtblick dieses vollkommen indisponierten Films, dessen verworrene Story und Auflösung sich wohl einzig durch den zuvorigen Konsum aller anderen Werke des violenten Saw-Universums erschließt: Die Motivation von Jigsaw kennt man schon aus Teil eins, mit der Originalität (auf den ersten Blick) ist es dahin. Teil 5 und 6 werden folgen, das Publikum wartet schon auf die nächste Fütterung mit seelenloser filmischer Rohkost ohne der Bewusstwerdung dessen, dass es derart ungenießbares Opium fürs Volk aufgrund permanenter Magenverstimmung lieber wieder herauswürgen und in Zukunft auf den "Genuss" verzichten sollte.
In seinem Werk Ästhetische Theorie sagt Theodor W. Adorno, ein Mitbegründer der Kritischen Theorie folgendes: „Kunst will das, was noch nicht war, aber alles, was sie ist, war schon.". Dem ist bei Ansicht von Saw IV nichts mehr hinzuzufügen.
Der Niedergang der Kultur, die Depravierung des Menschen auf das Niveau einer wilden Horde, die einzig aus gemeinsamen Interessen, nicht aus Sympathie eine Gruppe bilden, hat mit der Apparatur des Kinos in Verbindung mit dem Werk des Splatterfilms seinen traurigen Höhepunkt erreicht. Die Erkenntnisse der Aufklärung um die Beschaffenheit des menschlichen Körpers werden im Adornoschen Sinne dazu verwendet, diesem zu schaden oder größtmögliches Leid anzutun. Der Wandel vom Mythos zum Logos erfährt seine Dialektik durch die Oktroyierung des Wissens als Pervertierung der Intention der Aufklärung, mittels Epistemologie durch die Wissenschaften die Welt zu strukturieren. Daher kann die Erkenntnis bei der verurteilenswerten Tendenz in Richtung Gewaltporno (bedingt durch die Gesellschaft oder die Medien selbst?) und die Abstumpfung des Kinozuschauers, schaut man nur auf die viel zu hohen Einspielergebnisse anhand der niederen Klasse des Films, nur - und hier schließe ich mich Nietzsche an - lauten: Gott ist tot! - Das Kino auch (1/10).