Einem sterbenden Mann wird auf die offenliegenden Gedärme getreten; einem Mädchen wird die Hand in den Mund gepresst, bis sie erbricht; eine Frau erregt sich an einem verwesenden Schwein; eine Behinderte wird über ihren künstlichen Darmausgang gefoltert; einer sechzehnjährigen wird die Gebärmutter bei lebendigem Leib herausgeschnitten...
Man könnte diese Aufzählung ohne weiteres seitenlang fortführen. Eine morbide Fantasie? Ein bedrückender Ausflug in die Innenwelt eines Psychopathen?
Der Film – den ich im Rahmen eines Festivals gesehen habe – hat mich erschüttert wie kein anderer Film zuvor. Die Frage drängt sich auf, was getan werden kann, um die Produktion solcher Abartigkeiten schon im Vorfeld zu verbieten.
Was einigermaßen konventionell beginnt, nimmt im Verlauf immer krankhaftere Züge an und kumuliert schließlich in einer furios inszenierten Orgie des Wahnsinns und der Gewalt. Ganz offensichtlich sind die Darsteller bis auf wenige Ausnahmen Laien. Ganz offensichtlich aber auch kommt jeder von diesen im Verlauf des Filmes an einen Punkt, an welchem jegliche Fassade zusammenbricht. Schmerz und Leid wirken nicht gespielt und rücken den Film auch in dieser Hinsicht in die Nähe eines Snuff-Movies. Man wagt es kaum, sich vorzustellen, was sich während der Dreharbeiten zugetragen haben mag. Das ist kein Film über Perversion und Verbrechen – das ist Perversion und Verbrechen als Film!
Grausamkeit wird hymnisch zelebriert, brutalster Mord wird zum audiovisuell opulenten Festakt. Das ist es in der Regel tatsächlich – für den Mörder. Man wird jedoch das Gefühl nicht los, dass auch der Regisseur der rauschhaften Faszination der Gewalt erlegen ist.
Sieht man den Film das erste Mal (wie ich), erkennt man den Film als schwierig, wenn man ihn „verstehen“ will. Er wird jedoch einfach, wenn man sich der Intensität der einzelnen Szenen anvertraut. Zugegeben: Bildkraft und musikalische Untermalung sind faszinierend, ihr Zusammenspiel stellenweise furios (Dora!), ebenso der Aufbau szenischer Intensität. Einen klassischen Spannungsbogen hingegen wird man vermissen, sämtliche Ansätze laufen offenbar ganz bewusst ins Leere. So lockt der Film den Zuschauer immer wieder auf bekannte Pfade, um ihn dann wieder und wieder auflaufen zu lassen. Was sich zudem wie ein roter Faden durch den Film zieht, ist das vollkommene Fehlen moralischer Reflektionen. Wieviel Unerhörtes geschieht hier, ohne dass jemand auch nur ansatzweise darauf reagiert oder später die Rede darauf kommt. Der Film lässt so eine Welt entstehen, in der eigene Gesetze gelten, die einer eigenen, im herkömmlichen Sinne „unmoralischen“ Mythologie verpflichtet sind. Genau darum ist NICHTS obszön – da jede Handlung auch gleich wieder klarmacht, dass sie anderes bedeutet, mehr bedeutet, grösseres bedeutet. Und so, ganz paradox, fühlt man, entwickeln sich gerade aus der Amoral moralische Einsichten. Aus Wahnsinn geborener Zufall oder Berechnung von Regisseur und Drehbuchautor? Sicher bin ich mir da nicht…
Doch, zugegeben, der Film ist offenbar noch mehr, viel mehr. Eine Parabel über den deutschen Terrorismus, über Antisemitismus, und über allem der merkwürdige Schleier des Artifiziellen in mystisch-spiritueller Verbrämung, der noch interpretiert werden müsste.
Zudem geht es wieder über die Männlichkeit. Der homoerotische Hintergrund des Regisseurs wird in „Melancholie der Engel“ meines Erachtens deutlicher als im durch die Realität definierten „Cannibal“. Überhaupt hat man den Eindruck, dass der Regisseur erst mit diesem Film ganz erwischt hat, was er wirklich ausdrücken wollte. Nichts ist jedoch klarer wie dieses: die fast schon schizoide Zwiespältigkeit des Menschen, vor und hinter der Kamera, und überhaupt auf der Welt. Psychiater würden ihre Freude an diesem Werk (und seinen Machern) haben.
Jedoch: der Film stellt sich letztendlich selbst ein Bein. In seiner schier unfassbaren Radikalität versinkt für jeden auch nur ansatzweise „normal“ empfindenden Zuschauer die eigentliche (?) Intention des Filmes in einem Meer von Blut, Kot, Sperma und Erbrochenem. Ein Film, der, lässt man sich auf ihn ein, den Zuschauer niederdrückt wie eine Dampfwalze. Danach das tiefe Verlangen nach innerer Einkehr…
Was bleibt? Das Werk eines Wahnsinnigen, Kultstück für all jene, die sich tatsächlich und ehrlich der „dunklen Seite“ verschrieben haben. Allen anderen jedoch dürfte er, wie auch mir, aus oben genannten Gründen, im wahrsten Sinne „unfassbar“ bleiben.