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Getragen und majestätisch gleitet die Kamera durch die künstlichen Sets, schweift über die verschlagenen Gesichter der durch die Bank suspekten Figuren, als passiver, aber neugieriger Beobachter, nur gelegentlich, wenn ein Hinweis auftaucht oder der unheimliche, schwarzbehandschuhe Mörder mit dem indischen Tuch auf den Plan tritt, wird die schwerelose, die Breite des Scope-Formats genüsslich auskostende Kameraführung durch einen raschen Zoom jäh unterbrochen. Ja, diese Kamera liebt diese im Studio der CCC-Film Berlin errichteten Innenräume des Schloss Lebanon, in dem sich die einander kaum gewogenen Erben des verstorbenen Lords versammelt haben, um auf dessen Wunsch eine Woche auf die Verlesung des Testaments zu warten.

„Das indische Tuch“ war der Versuch, einen Wallace-Film, ganz und gar von den Darstellern ausgehend, als reinen Studiofilm (Außenansichten gibt es nur zweimal) kostengünstiger zu produzieren, ohne Freiluft-Aufnahmen, viele Effekte und Statisten. Alfred Vohrer und sein alt eingesessener Stammkameramann Karl Löb scheinen wie berauscht von den atmosphärischen Möglichkeiten des Stoffs gewesen zu sein, der hinter diesem Konzept stand: Anstatt den gleichnamigen Roman als Grundlage zu verwenden, griff Drehbuchautor Harald Giertz Petersson („Der Schatz im Silbersee“, „Der Zinker“) die Erzählstruktur von Agatha Christies berühmten Roman „And then there were none“ auf – besser bekannt als „10 kleine Negerlein“ - und machte aus der ursprünglichen Rache-Geschichte eine moritatenhafte, humorvolle Erbschaftsmeuchelei – und das alles unter dem Namen Wallace, der mit den Produktionen der Jahre 1963/64 zunehmend mehr zum reinen Namensgeber denn Federführer wurde.
Alles sollte offensichtlich sehr britisch, sehr elegant und raffiniert sein – um dem Zuschauer gar nicht erst die Zeit zu lassen, sich an der relativen Tristesse der Schauplätze, respektive Bauten zu stoßen. Und es musste natürlich von einer erstklassigen Besetzung umgesetzt werden.

Der Vorwurf, „Das indische Tuch“ sei heute nur mehr ein angestaubtes Kammerspiel, wird nicht ganz zu unrecht erhoben. Die in ihrer grellen, überzeichneten Machart meist leicht comichaften und mit bizarren Ideen, sprichwörtlichem „Camp“ geschwängerten Wallace-Kollegen wirken heute als popkulturelles Phänomen inmitten diverser postmodern-popkultureller Genre-Spielereien und -Hommagen - wie sie die Kinolandschaft in den letzten Jahren in großer Anzahl überfluteten - auf den zweiten Blick weit weniger überholt, eigentlich bemerkenswert jung und frisch. Im Gegensatz also zu dem Gros der schwarzweißen Wallace-Filme hustet „Das indische Tuch“ leider den Staub der deutschen Unterhaltungsfilmindustrie jener Tage im Minutentakt und erweckt als vielleicht erster Film der Reihe seit den – allerdings ungleich souveräneren - drei Pilotfilmen „Der Frosch mit der Maske“, „Der rote Kreis“ und „Die Bande des Schreckens“ tatsächlich den Eindruck, man habe sich hier ohne große Erfahrung in diesem Sujet mit stierem Blick auf britische Vorbilder an einem Kriminalstück versucht – und die Pointe verfehlt.

Warum „Das indische Tuch“ aber trotzdem einen besonders delikaten, kleinen Höhepunkt innerhalb der zählebigen Kultfilm-Reihe darstellt, liegt eben hierin begründet. Der altmodische Charme, die hausbackene deutsche Biederkeit einmal nicht im Gewand eines Heimatfilms oder eines Lustspiels sondern eines Kriminalfilms mit überraschend makabrem Grundton – und einem wunderbar aufspielenden Ensemble der deutschen Extraklasse. Die kitschige Vorstellung, die man sich in der Bundesrepublik seinerzeit vom „klassischen England“ machte, kommt „Das indische Tuch“ – der mehr noch als die übrigen Filme nach dem viel beschworenen britischen Charme lechzt – besonders teuer zu stehen, ganz zu seinen heutigen Gunsten.

Der Kontrast zwischen dem kantigen deutschen Gesicht und der erwünschten aristokratisch-feinsinnigen Maske resultiert (unter anderem) in besonders grotesken Situationen mit dem von Hans Nielsen dargestellten Amerikaner Mr. Tilling, profaner Ehemann einer ehemaligen Lebanon (eiskalt und schlangenhaft verkörpert von der für solche Rollen scheinbar geborenen Gisela Uhlen). Der „proletarische Ami mit seinen Hosenträgern“ und dem obligatorischen Schmerbauch, eckt bei der „altbritischen, aristokratischen“ Verwandtschaft mit seiner Direktheit im Bezug auf die Erbschaft gehörig an. Über der ganze profitgeilen Sippe – so richtig sympathisch ist hier ausnahmsweise, außer Eddi Arents ausgesprochen witzigem Butler Bonwit, niemand – wacht Lady Lebanon mit argwöhnischem Auge. Eine Paraderolle für die große Elisabeth Flickenschildt mit ihrem durchdringenden Blick und ihrer dunklen, kühlen Aura. Leider sollte es der letzte Edgar Wallace-Auftritt des ehemaligen UFA-Stars bleiben. Heimlicher Hauptdarsteller ist aber der junge Klaus Kinski als unehelicher Lebanon-Spross Peter Ross – mit seinem minutiösen, sarkastischen Spiel stielt er in jeder seiner wenigen Szenen der gesamten Besetzung die Show. Eine Paraderolle für ihn – aus der er das Maximum herausholte. Eine Sequenz, in der die Flickenschildt ihn entwürdigend zusammenstaucht und er mit verzerrtem Gesicht ein Sektglas zerdrückt, gehört zu einem der absoluten Höhepunkte des Films. Ganz und gar nicht glorreich steht hingegen Heinz Drache als die Ermittlungen leitender Anwalt Frank Tanner da: Einen dümmlicheren Helden hat die Wallace-Reihe wohl nie wieder aufgeboten. Tanner stolpert von einem Verdächtigen zum nächsten, erklärt aufgrund äußerer Indizien augenblicklich jeden der „Kandidaten“ für schuldig - bis derjenige ermordet wird. Und so hangelt er sich von Erbe zu Erbe, jedes Mal felsenfest überzeugt von der Richtigkeit seiner Annahme. Peinlich. Möglicherweise ist auch dieser Auftritt ein Grund dafür gewesen, warum Heinz Drache nie die Popularität eines Joachim Fuchsberger erreichte und nach einer ähnlich verunglückten Rolle in „Neues vom Hexer“ seine Wallace-Karriere mehr oder weniger beendete.
Unter den genannten Vorraussetzungen wäre die Variante von Georg Hurdalek, der die erste Drehbuchfassung schrieb, wesentlich sinniger gewesen: Der Held verbringt den Großteil des Films krank im Bett und wird gepflegt. So unfreiwillig komisch wie Heinz Drache hier agieren muss wäre ihm mit einer solchen Anlage seiner Figur noch gedient gewesen. So ist er nur ein blasses Hampelmännchen, das blinden Aktionismus der Überlegung vorzieht.

Die zwangsläufig episodenhafte Struktur der Handlung wird durch Vohrers und Löbs Inszenierung dankenswerterweise bestmöglich kaschiert und tritt vor allem dann zutage, wenn Bonwit – von den 23 Wallace-Auftritten Eddi Arents eindeutig einer der gelungensten und amüsantesten – allmorgendlich ein weiteres Gedeck vom Frühstückstisch entfernt. Ansonsten herrscht eine merkwürdige Geduld vor – nicht aber zu verwechseln mit Langatmigkeit. Die kühlen, teilweise auch schaurig ausgeleuchteten Schwarzweiß-Bilder werden von den Piano-Klängen des jungen Lord Edward Lebanon (ein blutjunger, manischer und unglaublich überzeugender Hans Clarin) illustriert, mit der „Fantaisie Impromptu“ von Chopin, dem Auftakt von Tschaikovkys Klavierkonzert Nr. 1 in B-Moll und, besonders atmosphärisch und subtil in einem wüsten Streitgespräch der beiden Tillings eingesetzt, der erste Satz von Beethovens „Mondscheinsonate“. Aus diesen klassischen Motiven generiert der unvergleichlich vielseitige Wallace-Stammkomponist Peter Thomas einen leider nur stellenweise grandiosen Soundtrack mit einer Blues Variante der „Fantaisie Impromptu“ und einigen jazzigen Stücken.
Die klassischen Stücke wurden von Vohrer während der gesamten Dreharbeiten gespielt um den Schauspielern die entsprechende Stimmung aufzuerlegen. Offenbar mit Erfolg: Hier blickt wirklich jeder unentwegt unruhig und fröstelnd drein.
Doch, das enorme inszenatorische Geschick Vohrers kommt hier ausgezeichnet zur Geltung, wie hier die Darstellerriege durch lange Fahrten in prägnanten Situationen kadriert wird, wie der Mörder mit seinen das Tuch durch die Luft wirbelnden Händen in den Fokus der Kamera tritt, wie Schnitt und Kamera mit Musik, Handlung und Bewegung harmonieren, all das ist so gut getimt und mit soviel Gespür für Stimmung gestaltet, man würde dem Film so gerne alleine dafür applaudieren. Zumindest formal hätte Vohrer hier durchaus in Konkurrenz mit den meisten damaligen amerikanischen Kriminalfilmen aus der Traumfabrik treten können.

Doch die hausbackene deutsche Biederkeit ist nicht totzukriegen, sie ist wie ein Damoklesschwert, das unerbittlich über diesem Film schwebt, geführt von einer hoch talentierten (wenngleich sehr vom Drehbuch abhängigen) Hand, gespielt von einem herausragenden Ensemble, fotografiert von einem echten Profi und vertont von Deutschlands vielleicht bemerkenswertestem und experimentellsten Filmkomponisten. Im Finale hat sich durch eine grandios inszenierte letzte Greueltat des wahnsinnigen Mörders und anschließender Verfolgungsjagd durch das Schloss der Film elegant über seinen eigenen, gichtkranken Schatten hinweggerettet, da serviert man die wohl lächerlichste Schlusspointe, mit der je ein Wallace-Film abgestraft wurde. Was damals vielleicht noch auf Akzeptanz beim Publikum gestoßen sein mag wirkt heute so schlecht und plump, dass es schon beinahe surreal ist. Ein blamables Ende für einen dank seines altmodischen Charmes, seiner großartigen Darsteller und der von ihnen verkörperten illustren Charaktere sowie seiner ausgesprochen gediegenen, hochwertigen Inszenierung äußerst unterhaltsamen Filmes, mit dem man sich immer wieder gerne trifft. Der altdeutsche Mief war eben doch nicht immer nur katastrophal.

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