"Du wirst allein geboren, du lebst allein, du stirbst allein. Allein, immer allein.“
Nur eine der vielen zitierungswürdigen Aussagen des Hauptcharakters im ersten Langfilm des argentinisch-französischen Regisseurtalents Gaspar Noé. Die Handlung knüpft an die Geschehnisse vom 1991 gedrehten Kurzfilm „Carne“ an, welche zu Beginn kurz und in Form von Schwarzweißbildern in das Blickfeld des Zuschauers geknallt werden. Der namenlose Schlachter (Philippe Nahon) hat nach dem Mord am vermeintlichen Vergewaltiger seiner Tochter Cynthia (Blandine Lenoir) eine langjährige Haftstrafe verbüßt und wird jetzt wieder ins System gespuckt.
Während der gesamten 89 Minuten verfolgt man nun, wie ein auf sämtlichen Ebenen gescheiterter Mann versucht, den letzten Rest seines Scheißlebens lang irgendwie über die Runden zu kommen. So geht er eine oberflächliche, von Belanglosigkeiten, Egoismus und Verachtung versetzte Beziehung zu einer Wirtin (Frankie Pain) ein, in der Hoffnung, mit ihrem Geld wieder eine eigene Schlachterei zu bekommen und so seinem einzigen Lebenssinn nachgehen zu können. Er bewirbt sich sogar auf Aushilfsarbeiten und wird schließlich Nachtwächter in einem Altenheim.
Tod, Verderben, Angst, Hoffnungslosigkeit und die allgegenwärtige Einsamkeit sind die ganze Zeit präsent; bei all dem Negativen geht es aber auch um Liebe. Die Liebe des Mannes zu seiner autistischen und stummen Tochter, die aber anders ist als das, was sich die Allgemeinheit unter Liebe vorstellt. Immer wieder wird man mit diesen Themen konfrontiert. Die Quintessenz des Ganzen, wie am Ende schon angedeutet, wäre, dass jeder Mensch, mag er noch von so vielen anderen umgeben sein, mit sich allein ist.
Und wenn man sich zu allem Überfluss auch noch selbst hasst, kommt das dabei raus, was der Hauptfigur widerfährt. Nämlich ein immerwährender Kampf mit sich selbst, mit der ungeliebten Umwelt, dem ungeliebten Leben. Als Kind missbraucht, von der Gesellschaft verachtet und verstoßen, muss der Namenlose erleben, wie es in der tristen französischen Provinz – aber auch letztendlich überall anders in der (zivilisierten) Welt – zugeht, wenn man nichts hat, nichts ist und es keinem auffallen würde, wäre man von Jetzt auf gleich nicht mehr da.
In schwachen Farben folgt man nun einer wandelnden Leiche auf ihrem Weg aus dem Knast über Lille und schließlich nach Paris. Auf Musik wurde (möglicherweise zugunsten der doch sehr speziellen Atmosphäre) beinahe vollständig verzichtet, unweigerlich fallen einem selbst zu jeder Szene passende Klänge ein. Auch gesprochen wird nicht oft – meistens hört man Nahon's Stimme aus dem Off, seine Gedanken, Wünsche, Sehnsüchte, seinen Hass. Wenn einmal Dialoge stattfinden, spiegeln diese eigentlich nur die Gesellschaft, die dieses (Kunst-)Werk beschreibt, wider – kurze, knappe Sätze, leere Worthülsen, völlig aneinander vorbei gesprochen und bedeutungslos.
Gewalt gibt es auch immer mal wieder zu sehen, der Clou ist jedoch, dass nichts davon wirklich geschieht. All die Visionen von Mord und Rache spielen sich ausschließlich im Kopf eines Verlierers ab, Entschlossenheit ist eine der vielen Tugenden, die ihm abhanden gekommen sind. Eine Ausnahme jedoch macht eine Aktion aus, die den Hauptdarsteller gut und gern wieder ins Gefängnis bringen könnte, jedoch letztlich nach Paris verschlagen wird. Die Feigheit und das ewige Weg- und Hinterherrennen lassen sich an vielen Beispielen festmachen – ob er nun in seinem Job als Nachtwächter gegen den Tod machtlos ist, seinen letzten Rest Würde in einer Provinzkneipe verliert oder sich bei einem Vorstellungsgespräch wie ein wertloses Stück Dreck behandeln lässt. All die Wut schlägt früher oder später in Verzweiflung um, daran ändert auch der Besitz einer Waffe nichts.
Und so endet dann der Streifen, welcher anfangs als „Film mit expliziter Gewalt- und Sex-Darstellung“ tituliert wird, nach eineinhalb Stunden Wahnsinn mit einer denkwürdigen Szene – ob man sie als Happy End ansehen möchte, sei dahingestellt und darüber hinaus jedem Zuschauer selbst überlassen. Was danach bleibt, ist ein mulmiges, vollkommen destruktives Gefühl über den Film hinaus, aufgrund der doch sehr hohen Intensität wird das auch noch ein Weilchen so bleiben. Man bekommt einen Spiegel vorgehalten und sollte sich fragen „Hat er nicht Recht? Habe ich selbst das nicht auch schon in x-facher Ausführung selbst erlebt?“
Als Teil der Kino Kontrovers-Reihe dürfte "Menschenfeind" zwar einigen Filmfreaks bekannt sein, alles in allem bleibt er aber trotzdem wohl nur ein Nischenfilm, obwohl er im Grunde von jedem gesehen werden sollte, geht er doch auch jeden Einzelnen an!
Der namenlose Mann taucht übrigens auch noch einmal für ein paar Minuten in der „Anfangs“-Szene des Flicks „Irreversible“ (ebenfalls von Noé) auf, wo er nackt mit einem anderen Mann auf einem Bett sitzt und ein tieftrauriges Gespräch führt. In selbigem erfährt man, dass seine Tochter eben wie bereits angesprochen, das Einzige ist, was er je hatte und dass ihn seine eigene Auffassung von Liebe zu ihr abermals ins Gefängnis gebracht hat.